Sie hatte gedacht, die Kälte würde sofort ihr Bewusstsein löschen. Doch so war es nicht gewesen. Deshalb spürte sie die mörderisch eisige Kälte des Weltalls, direkt nach der Wiederverstofflichung. Unmittelbar nach dem Wurmlochdurchgang. Wie glühende Nadeln. Trotz der Tatsache, dass ihr Körper nicht aus lebendem Gewebe bestand, sondern aus Naniten. Winzig kleinen Roboterzellen die sich selbst replizieren konnten.
Genau hier lag das Problem. Diese Naniten starben nicht im eigentlichen Sinne ab, wenn man sie der Kälte des Weltalls aussetzte. Sie übertrugen die Einflüsse der jeweiligen Umgebung weiterhin als Impulse an das künstliche Gehirn des Körpers.
So war ihr Körper langsam immer mehr erstarrt, ohne dass dabei zunächst ihre Fähigkeit zu denken und zu empfinden beeinträchtigt worden war. Doch das war nur anfänglich so gewesen. Nach einer nicht messbaren Zeitspanne hatten sich ihre Denkprozesse verlangsamt. Ihre Gedanken flossen immer träger. Wie flüssiges Metall das langsam aber sicher immer mehr erstarrte, bis es seine Fließfähigkeit schließlich ganz verlor.
Die Fähigkeit zu sehen war bereits erloschen. Es existierte nur noch Dunkelheit und Kälte und sie sehnte sich danach, es möge endlich ein Ende finden. Sie sehnte sich nach jenem Frieden, der ein endgültiger sein würde und ein Gefühl des Bedauerns überkam sie, weil sie nun nicht mehr erfahren würde wie alles ausging.
Sei nicht traurig. Es ist dir nicht bestimmt jetzt schon die Bühne des Kosmos zu verlassen. Erinnere dich daran wie du das erste Mal den Tod überwunden hast.
Die Stimme, wenn es überhaupt eine Stimme gewesen war, schien aus weiter Ferne zu kommen. Sie vermittelte Hoffnung, aber auch eine gewisse Melancholie. Vielleicht hatte sie sich diese Stimme aber auch einfach nur eingebildet.
Ich habe dich nicht aus den Augen gelassen, seit du die Pegasus-Galaxie erreicht hast. Dein Geist leuchtete von Beginn an sehr stark heraus.
Diesmal war sie sich sicher, dass die Stimme wirklich existierte. Sich mühsam darauf konzentrierend formulierte sie in ihrem verlöschenden Geist eine Frage: Wer bist du?
Ein leises Lachen klang auf. Du bist einem gewissen Daniel Jackson nicht unähnlich. Auch er hat mir ständig Fragen gestellt. Ich werde deine Fragen beantworten. Zumindest einen Teil von ihnen. Doch dazu musst du jetzt erst einmal anwenden, was du gelernt hast. So, wie du es vor der Zerstörung des Replikator-Planeten schon einmal getan hast. Konzentriere dich auf dein geistiges Zentrum und dann: Lass los und mache den Schritt…
Frieden durchflutete sie. Für einen Moment spürte sie weder Kälte noch sonst etwas. Dafür durchdrang sie gleißendes Licht und peinigte ihre Augen selbst durch ihre geschlossenen Augenlider hindurch. Nach einem Moment ließ die Helligkeit nach. Dennoch dauerte es eine Weile bis sie sich traute ihre Augen zu öffnen.
Hatte sie überhaupt noch Augen?
Gleichzeitig mit diesem Öffnen spürte sie festen Boden unter sich. Sie hatte einen Körper und sie sah die Umgebung.
Über ihr spannte sich ein wunderbar blauer Himmel, an dem sich ein paar kleine, weiße Quellwolken zeigten. Doch er wirkte seltsam. Nicht wie ein echter Himmel, sondern eher so, als habe ihn Jemand mit einem übergroßen Pinsel in Ölfarben gemalt. Sich vorsichtig zu den Seiten umblickend erkannte sie, dass die gesamte Landschaft scheinbar gemalt war. Es dauerte nur einen Moment, bis sie bei dem Blick zu ihrer Linken die Landschaft wiedererkannte. Die Farben. Der große See. Die kleine Insel mit dem antiken, schneeweißen Pavillon in der Mitte. Sie hatte all das schon einmal gesehen. Doch nicht in der Realität. Es handelte sich um eine Szene auf einem Bild das bei ihr Zuhause an der Wand hing. In ihrem kleinen Haus auf der Erde. Über der Wohnzimmercouch.
„Das ist ja seltsam“, murmelte sie und sah erst jetzt an sich herab. Sie erkannte ihren Körper wieder. Nur ein dünnes, weißes Kleid verhüllte ihn. Eher spärlich als adäquat.
Als sie sich erhob, entstand ein schmatzendes Geräusch. So, als habe sie gar nicht auf einer grünen Wiese gelegen, sondern in Schlamm. Bei diesem Gedanken sah sie zu ihren Füßen hinunter und stellte fest, dass ihre nackten Füße halb in Ölfarbe eingesunken waren.
Zu ihrer rechten Hand erhob sich der knorrige Baum, den es auch auf ihrem Bild gab. Gedankenverloren nahm sie die runde goldgelbe Blüte einer großen Blume in die Hand. Diese Blüte fühlte sich seltsam feucht an und als sich ihre Finger schlossen, quoll goldgelbe Farbe zwischen ihren Fingern hervor.
Sie öffnete ihre Finger und schlackerte mit der Hand in der Luft herum um die Farbe wieder loszuwerden, was ihr eher schlecht als recht gelang. Den Rest der Farbe wischte sie an dem Stoff des Kleides ab. Dabei sah sie erneut zum Himmel hinauf. Er hatte sich nicht verändert. Selbst die beiden großen Vögel, die sich dunkel gegen das Blau abhoben, bewegten sich nicht. Wie angenagelt verharrten sie, mit ausgebreiteten Schwingen.
Als sie wieder zum See hinuntersah erkannte sie eine schlanke Gestalt. Eine dunkelhaarige Frau. Sie war ebenso leicht gekleidet wie sie selbst. Sanft lächelnd winkte die Frau und rief ihr zu: „Willkommen in deiner Fantasie, Elizabeth!“
Endlich zu einem Teil ihrer gewohnten Selbstsicherheit findend schritt sie, die sie einst Elizabeth Weir gewesen war, langsam hinunter zum Ufer des Sees, dass nicht weiter als hundert Meter entfernt lag. Dabei bemerkte sie die öligen, gemalt wirkenden, Wellen und ein ironisches Lächeln überflog ihr hageres Gesicht. Erst jetzt kam sie auf die Idee mit den Fingern über ihre Wange zu tasten. Als sie dabei eine leichte Feuchtigkeit verspürte wurde ihr klar, dass sie die Finger der Rechten genommen hatte. Vermutlich war ihre Wange nun mit gelben Streifen eingefärbt.
Sie erreichte die Frau, deren Gesicht ihr nichts sagte. Elizabeth Weir war sich vollkommen sicher, ihr niemals begegnet zu sein. Nicht im Leben zumindest. Die tiefblauen Augen der Frau strahlten eine Lebensweisheit aus, wie sie kein sterbliches Wesen hätte erlangen können. Ihr sanftes Lächeln wirkte gütig und gleichzeitig bestimmt.
„In der Sterneninsel, aus der du stammst, Elizabeth, hält man mich für tot. Es ist mir auch nicht mehr möglich dorthin zurückzukehren, doch hier kann ich dir helfen. Meinen Namen hast du vielleicht schon einmal gehört. Er lautet Oma Desala. Einige Menschen denken, ich sei eine gebürtige Antikerin, was jedoch so nicht ganz stimmt.“
Elizabeth Weir erinnerte sich an den Namen. „Du warst es, die Doktor Daniel Jackson geholfen hat aufzusteigen, habe ich Recht?“
„Ja. Allerdings zeichnet sich Daniel durch einen eklatanten Mangel an Fantasie aus. Das hier wäre seinem Geist nie entsprungen.“ Damit streckte Oma Desala ihre Arme aus und drehte sich einmal um ihre eigene Achse. „Wer sich, so wie du gegenwärtig, in einem Zwischenreich befindet, der erschafft sich seine eigene Umgebung. Du bist jedoch die Erste, die dazu echte Farbe verwendet hat.“
Verwirrt über das Gehörte deutete Elisabeth Weir nach oben und fragte: „Warum bewegen sich diese beiden Vögel nicht?“
„Es liegt ganz bei dir es zu ändern. Sie tun nur das, was dir in deinen Gedanken vorschwebt. So liegt es auch allein an dir, dass diese Welt aus Ölfarbe besteht.
Ungläubig sah Elizabeth wieder zu den beiden großen Vögeln hinauf. Für einen langen Moment passierte gar nichts und Elizabeth wollte sich schon enttäuscht abwenden. Doch dann schlugen die Vögel mit ihren Schwingen. Bereits im nächsten Moment schossen sie pfeilschnell herab und flogen in einer weiten Schleife über den See, um sich gleich darauf wieder in die Höhe zu schrauben. Dabei gaben sie ein heiseres Kreischen von sich.
Nur einen Moment später veränderte sich die Landschaft selbst. Echtes, hohes Gras wiegte sich im Wind und ließ die weite Grasebene zu ihrer Linken aussehen wie ein grünes, vom Sturm gepeitschtes Meer. Wellen echten Wassers platschten leise ans Seeufer.
Oma Desala nahm Elizabeth Weir an die Hand und sagte mit sanfter, irgendwie amüsiert klingender, Stimme. „Komm mit mir.“
Damit machte sie einen Schritt auf den See hinaus. Ihre Füße wurden jedoch nicht vom Wasser bedeckt, sondern es schien so, als würde Oma Desala auf dem Wasser stehen.
„Ich kenne sonst nur noch Einen, der diesen Trick beherrscht hat“, entfuhr es Elizabeth und zu ihrer Überraschung erwies sich die Wasseroberfläche als stabil, als sie der Frau auf die Oberfläche des Sees hinaus folgte.
Ein Lachen von Oma Desala war die Antwort. „Ich kenne diese Geschichte. Sie geschah aber nicht in deiner Fantasie, sondern in der Realität.“
Hand in Hand mit Elizabeth Weir weiter auf den See hinaus schreitend, wobei sie auf die kleine Insel zu hielt, erklärte die Frau, die behauptet hatte keine Antikerin zu sein: „Ich habe noch nie viel von den Regeln der Antiker gehalten, Elizabeth. Darum sind wir beide nun hier. In einem Zwischenreich. So, wie auch Daniel Jackson, will ich dich nicht sterben lassen, ohne dass du die Chance hattest das zu tun, wofür du geboren wurdest. Eigentlich sollte ich niemandem beim Aufstieg helfen. Das sollen die Sterblichen allen schaffen. Doch du bist zu wichtig, Elizabeth. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.“
Neben Oma Desala über das Wasser schreitend sah Elizabeth Weir die etwa gleichgroße Frau von der Seite an. „Kannst du etwas genauer werden?“
„Nein. Ich bewege mich schon auf gefährlich dünnem Eis, wie man bei deinem Volk zu sagen pflegt. Alles, was ich dir noch verraten darf, ist, dass es von hier aus zwei Wege für dich gibt. Der eine wird dir den Aufstieg ermöglichen, ohne Chance zurückzukehren in die Welt der Sterblichen. Der andere Weg wird dich zurückführen in die Welt der Sterblichen. Doch in diesem Fall, so viel kann ich dir sagen, wirst du nie mehr die Chance erhalten aufzusteigen. Du wirst dann das Leben einer Sterblichen führen.“
Sie erreichten die Insel. Immer noch Hand in Hand schritten sie zu dem offenen Pavillon. Auf einem Tisch, im Zentrum des kreisrunden Raumes, standen zwei große Tassen mit einer dampfenden Flüssigkeit. Elizabeth sog prüfend die Luft ein und fragte ihre Begleiterin begeistert: „Ist das Kaffee?“
„Warum fragst du das mich?“, erwiderte Oma Desala mit leicht angehobenen Augenbrauen. „Es ist deine Fantasie.“
Eine sanfte, warme Brise wehte vom See her durch die Säulen des Pavillons und erst jetzt realisierte Elizabeth Weir, dass die Farbe sowohl von ihrer rechten Hand, als auch von ihren Füßen und von ihrem Kleid verschwunden war. Sie setzte sich auf eine der drei geschwungenen Marmorbänke, die um den runden Tisch herum standen und griff nach einer der Tassen. Genießerisch einen Schluck von dem starken, schwarzen Kaffee nehmend meinte sie schließlich: „Der Kaffee ist perfekt. Ob ich wohl auch einen Cappuccino hinbekomme?“
„Übertreibe es nicht“, mahnte Oma Desala gutmütig und setzte sich neben sie auf die Bank. „Und jetzt höre mir gut zu, Elizabeth, denn bevor du dich für einen der beiden Wege entscheidest, von denen ich eben sprach, habe ich dir eine Menge zu erklären…“