Haircut

Es reichte. John war sich im Klaren darüber, dass nun so langsam die Grenze überschritten worden war und er etwas ändern musste.
Sprüche wie 'Na, da haben Sie aber eine süße Kleine' oder 'Was für ein niedliches Mädchen' waren ja schön und gut und schmeichelten den Eltern auf eine ganz spezielle Art und Weise, allerdings nur, wenn es sich bei dem Kind auch wirklich um ein Mädchen handelte, was in seinem Fall wohl leider nicht gegeben war. Denn sein Kind war kein Mädchen, sondern ein Junge und John musste mürrisch dreinschauend zugeben, dass Aussagen, wie süß seine Tochter doch sei, leider Gottes nicht weit hergeholt waren. Sein Sohn hatte mit seinen drei Jahren ein typisches Babyface und dazu noch schulterlange Haare. In den Augen vieler Menschen zeichnete ihn das unbestreitbar als Mädchen aus und John konnte es nicht mehr hören.
Er hatte einen Sohn und keine Tochter, zugegeben, er hatte einen Sohn, der als Mädchen durchgehen konnte - bis jetzt noch - allerdings rechtfertigte das seiner Meinung nach keine Kommentare wie 'was für ein hübsches Mädchen'.
Er bog um die nächste Ecke und blickte auf Matthew, der inzwischen auf seinen Armen eingeschlafen war. Dem Kleinen schienen solche Aussagen nichts auszumachen, aber er war auch noch zu jung, um es persönlich zu nehmen. John hingegen ärgerte es und er fragte sich, warum Elizabeth ihm auch unbedingt die Haare hatte wachsen lassen wollen.
Er war ein Junge, verdammt, und ein Junge sollte wie ein Junge aussehen!
Kaum beim Quartier angekommen stabilisierte John seinen schlafenden Sohn und machte sich auf in Richtung Bad.

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"John?!?", erklang Elizabeths Stimme und John beeilte sich, um zu ihr zu kommen, da ihre schrille Stimme nichts Gutes verhieß. Passend zum Tonfall zeichneten ihre Gesichtszüge eine wirklich angespannte Miene und er überlegte, ob er nicht doch lieber wieder umkehren sollte.
"Hallo Schatz, wie war das Treffen mit Rodney?", fragte er und versuchte sie dadurch ein wenig abzulenken, was nur wenig Wirkung zeigte.
"Wie immer… Was ist mit Matthew passiert?", fragte sie und er schluckte angespannt.
"Nichts, ihm geht es gut", antwortete er und wusste, dass sie eigentlich auf etwas Anderes hinauswollte.
"John!", entgegnete sie drohend und blickte auf ihren Sohn herab, der zwei Meter von ihr entfernt mit Bauklötzen spielte. "Was hast du gemacht?"
"Es war nötig, okay?", rechtfertigte er sich und sie ließ ihren Blick zu ihm schnellen. "Ich meine, stell dir vor, was das für sein Selbstvertrauen bedeutet, wenn ihn jeder für ein Mädchen hält", fügte er hinzu und zuckte unschuldig mit den Schultern.
"Aha", meinte sie schwach und ließ ihre Tasche auf den Boden sinken. "Und deswegen musste es gleich ein Irokesenschnitt sein?", wollte sie aufgebracht wissen und er konnte ihr ansehen, dass der hysterische Anfall, den Frauen so gerne bekamen, noch bevorstand.
"Ich finde er steht ihm. Matthew sieht doch chic damit aus", versuchte er sie zu besänftigen, doch es ging eher nach hinten los.
"Chic? Er sieht aus wie ein verdammter Punk!", rief sie und konnte den Blick nicht von den, ihrer Meinung nach, verstümmelten Haaren ihres Sohnes lassen. "Oh mein Gott, seine schönen Haare!"
"Es sind doch nur Haare, Schatz. Und es war nötig. Ich musste mir heute erst wieder anhören, was für eine süße Tochter ich habe… was ja auch ganz nett gewesen wäre, nur leider ist Matthew ein Junge", meinte er und Elizabeth trat auf ihren Sohn zu, um vor ihm in die Knie zu gehen. Matthew ließ sich von ihr nicht stören und stapelte weiter seine bunten Bauklötze aufeinander.
Elizabeth hob die Hand und schien etwas unschlüssig, ob sie ihm wirklich über die Haare streichen sollte. John behielt einen Kommentar à la ‚Er beißt schon nicht' lieber für sich und sah dabei zu, wie sie Matthew sachte über den neuen Haarschnitt strich. Was sie davon hielt war deutlich auf ihrem Gesicht abzulesen und John musste ein Grinsen verbergen.
"Es sind nur Haare", erinnerte er sie und sie warf ihm einen giftigen Blick zu. John war überzeugt, dass sie früher oder später einsehen würde, dass es die richtige Entscheidung gewesen war und falls nicht würde er einiges in Bewegen setzen müssen, um sie zu besänftigen.
"Es fehlt nur noch die Farbe", murmelte sie verärgert und versuchte Matthews Frisur in etwas Anderes als einen Irokesenschnitt zu verwanden, doch die Haare an der Seite waren einfach zu kurz und es war zwecklos.
"Wir haben welche im Badezimmer", warf er ein und biss sich sofort auf die Zunge; er musste nicht noch Salz in die Wunde streuen und Elizabeth würde ihm diesen Kommentar sicher nicht verdanken.
"Habe ich euch vielleicht bei etwas gestört?", wollte sie bissig wissen und er schüttelte den Kopf. Er hatte einen Moment darüber nachgedacht, Matthews Haare auch noch ein wenig zu färben, doch dann hätte ihn Elizabeth sicher erwürgt.
"Nein, ich habe ihm nur die Haare geschnitten und wir sind fertig", antwortete er wahrheitsgemäß und verschwieg seine kurze Überlegung bezüglich der Haarfarbe.
"Du hast ihm die Haare geschnitten?", fragte sie verblüfft und drehte das Gesichtchen ihres Sohnes von einer Seite zur anderen, um den Haarschnitt von allen Seiten betrachten zu können.
"Ja, es war eigentlich gar nicht so schwer", sagte er und kniete sich neben sie, ebenfalls in die Betrachtung des flotten Haarschnitts seines Sohnes vertieft.
"Du hättest mich wenigstens fragen können", meinte sie und John war überrascht, dass der mit Sorge erwartete hysterische Anfall ausblieb.
"Du hättest Nein gesagt."
"Ja, hätte ich! Er hatte so schöne Haare."
"Er ist ein Junge, Liz… kein Mädchen", erwiderte John und seufzte leise. Ihm gefiel der Haarschnitt und jetzt würde ihm sicherlich niemand mehr Komplimente zu seiner hübschen Tochter machen.
"Sie werden ja wieder wachsen", meinte sie und zupfte nachdenklich an Matthew Haaren herum. John blickte alarmiert auf und glaubte sich verhört zu haben.
"Die Haare bleiben so kurz", sagte er bestimmend und wollte darüber beim besten Willen nicht diskutieren. "Wenn das nächste Baby ein Mädchen wird, kannst du ihm die Haare bis zum Boden wachsen lassen, aber Matthew behält seinen Kurzhaarschnitt."
Elizabeth schaute ihn mit geschürzten Lippen an und seufzte leise, strich Matthew noch einmal kurz über die Wange und widmete sich dann ihrem Mann.
"Die Haare unserer eventuellen Tochter fallen dann aber in meinen Aufgabenbereich", sagte sie und zog fordernd eine Augenbraue nach oben.
"Abgemacht. Und Matthews fallen in meinen!", meinte er und sie gab sich nach kurzem Zögern geschlagen.
"Abgemacht."
"Du musst doch zugeben, er sieht richtig flott damit aus", sagte John und war stolz auf die Frisur, die er seinem Sohn verpasst hatte; sie stand ihm gut und sein Gesichtchen, obwohl immer noch ein typisches Mädchengesicht, wirkte nicht mehr ganz so weiblich.
Dass Elizabeth nachdenklich damit anfing auf ihrer Lippe herumzukauen, war ihm Antwort genug und lächelnd strich er Matthew über die kurzen Haare.

~ Fin ~