Dunkle Abgründe by Lorien
Summary: Es heißt, "der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten". Nach den Ereignissen von "Common Ground" muss John Sheppard das Erlebte verarbeiten, wobei seine Freunde (und vor allem McKay) versuchen ihm helfend zur Seite zu stehen. Doch als scheinbar alles nur immer schlimmer wird, versucht Rodney John mit einem Ausflug auf die Erde abzulenken.
Categories: Stargate Atlantis Characters: John Sheppard, Multi-Chara, Rodney McKay
Genre: Action, Friendship, Hurt/Comfort
Challenges: Keine
Series: Keine
Chapters: 5 Completed: Ja Word count: 24757 Read: 26140 Published: 02.04.12 Updated: 02.04.12
Story Notes:


Warnung: Spoiler vor allem für SGA 3x07 "Common Ground", verschiedene kleinere Anspielungen auf frühere Folgen. Außerdem eine Anspielung auf SG-1 10x15 "Bounty".

1. Kapitel 1 by Lorien

2. Kapitel 2 by Lorien

3. Kapitel 3 by Lorien

4. Kapitel 4 by Lorien

5. Kapitel 5 by Lorien

Kapitel 1 by Lorien
Dunkle Abgründe


Ein Junge weint nicht! Ein Junge beißt
Sich auf die Zunge, auch wenn das Herz reißt.
Das musst du wohl noch lernen?!
(Gerhard Schöne – Ein Junge weint nicht)


***

In dem mit modernster Präsentationstechnik ausgestattetem Auditorium, welches sich im Curie-Gebäude der physikalischen Fakultät einer kleinen im mittleren Westen der USA gelegenen Privatuniversität befand, war es dunkel und stickig. Doch noch immer folgten die etwa zwanzig Anwesenden wie gebannt der Vorführung, die auf dem Podium stattfand. Dort war Dr. Rodney McKay gerade dabei, in seinem üblichen „Ich-weiß-alles-und-ihr-nichts“-Tonfall die Funktionsweise der auf der großen Projektionswand gezeigten Schaltpläne zu erklären. Während die Geschwindigkeit, in der er sprach, jeden Normalbürger längst zur Verzweiflung getrieben und dafür gesorgt hätte, dass ihm keiner mehr folgen konnte, schien hier niemand Probleme damit zu haben.
Niemand, außer mir vielleicht, stellte John Sheppard leicht amüsiert fest. Ich hätte mich wahrscheinlich doch nicht in die letzte Reihe setzen sollen.
Er hatte beinahe laut aufgelacht, als ihm die Sitzordnung in dem nach hinten hin ansteigenden Raum das erste Mal so richtig bewusst geworden war. In der ersten Reihe saßen die, die man eigentlich nur als Anhänger bezeichnen konnte. Dicht gedrängt, hingen sie an jedem einzelnen Wort. Sie würden ohne zu zögern alles glauben, was Rodney ihnen erzählte. Dahinter kamen zwei bis drei Reihen Zweifler. Sie bildeten momentan noch die größte Gruppe und waren bisher mehr oder weniger neutral oder skeptisch eingestellt. McKay würde es bis zum Ende seiner Präsentation jedoch problemlos schaffen, mindestens die Hälfte von ihnen noch auf seine Seite zu ziehen, sie sozusagen zu bekehren. Mit ein wenig Abstand kamen dann die beiden Ungläubigen. Kein Beweis auf der Welt konnte sie von Rodneys Genie überzeugen. So weit wie möglich auseinander sitzend machten sie sich eifrig Notizen, um Rodney am Ende die scheinbar entdeckten Fehler nur so um die Ohren zu hauen. Allein Sheppard saß noch weiter hinten, sozusagen als neutraler Beobachter.
Auch wenn es sicherlich eine Rolle spielte, dass er der einzige Nichtwissenschaftler im Raum war, lagen seine Verständnisprobleme wohl eher daran, dass er sich von Anfang an nicht wirklich Mühe gegeben hatte, Rodneys Ausführungen zu folgen. Vielmehr hatte sich John damit begnügt, den Wissenschaftler zu beobachten.
Die Normalität, die McKay ausstrahlte, während er seinen Kollegen sein Genie vorführte, faszinierte Sheppard. Es war, als wären die letzten zwei Wochen nie gewesen und für einen seltenen Augenblick lang konnte auch John sie – nicht vergessen, aber zumindest in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verdrängen.
Hier war niemand, der John besorgt beobachtete, so als ob er darauf warten würde, dass er zusammenbrechen würde, nur weil das eine verständliche Reaktion nach einem Tag in der Hölle wäre. Niemand, der ihm hinterher schlich, aus Angst, dass er wieder verschwinden könnte. Niemand, der ihn dazu zwingen wollte, über das Vorgefallene zu reden, nur weil es besser sei, nicht alles in sich hineinzufressen. Niemand, der ihn missbilligend anblickte, nur weil er sich wieder bis zur Erschöpfung verausgabt hatte, um wenigstens eine Nacht mal zu müde zum träumen zu sein. Nicht, dass dies je funktioniert hätte.
Nur die Stimme eines Freundes, die einen Hauch von überlegener Arroganz nicht unterdrücken konnte, als sie neue Wege der Energieeffizienz aufzeigte.
Mit einem leisen Lächeln breitete John die Arme über die benachbarten Stuhllehnen aus und rutschte, die Beine ausstreckend, in eine bequeme Pose - nun, zumindest so bequem, wie es die harten Holzstühle zuließen. Entspannt wie schon lange nicht mehr setzte er seine intensive Beobachtung von Rodney fort.

***

Schmerz.
Nie zu enden scheinende Folter.
Weißglühende Agonie.
Hilflosigkeit.
Nicht glauben können, dass es wirklich geschah.
Ohnmächtiges Zerren an den Fesseln.

Wut.
Wut auf Gefängniswärter, die sich nicht zu schade waren, einen gemeinsamen Feind als Folterinstrument zu benutzen.
Wut auf den Mitgefangenen, der zu abgestumpft schien, um sich gegen sein Schicksal aufzulehnen.

Hände, die sich ihm entgegenstreckten.
Und wieder Schmerzen, unerträgliche Schmerzen.
Ohne den Knebel hätte er sich wahrscheinlich längst heiser geschrieen.

Ein Kaleidoskop aus Bildern und Gefühlen, die ihn in einem immerwährenden Strudel gefangen hielten - und zwischen allem Kolyas zu einer grinsenden Fratze verzogenes Gesicht.
„Sheppard…“

***

Sheppard…
„JOHN!“
Der besorgte Ausruf seines Namens brachte Sheppard in die Wirklichkeit zurück. Ein einziger Blick nach unten auf das Podium zeigte ihm Rodneys hilflos aufgerissene Augen. Das reichte aus, um auch die letzte Illusion von Normalität zerplatzen zu lassen. Nervös um sich schauend wurde John bewusst, dass alle Augen im Raum auf ihn gerichtet waren.
Oh Gott, er war doch nicht etwa eingenickt und hatte im Schlaf geschrieen? Unbewusst wanderte Johns Hand zu seinem Hals, um seine trockene Kehle zu massieren. Auch ohne sich in einem Spiegel sehen zu können, war ihm klar, dass der Versuch eines beschwichtigenden Lächelns kläglich scheiterte und sein Gesicht viel eher einer Grimasse ähneln musste, die ihn erst recht durchgeknallt erscheinen ließ.
„Äh … Hi! Sorry für die Unterbrechung.“
Ob es nun daran lag, dass die Wissenschaftler einfach nur exzentrisches Verhalten von ihren Kollegen gewöhnt waren, oder daran, dass er vielleicht doch keinen völligen Idioten aus sich gemacht hatte, wusste er nicht. Jedenfalls begannen sich die ersten Köpfe bereits wieder dem Podium zuzuwenden. Allein Rodneys Aufmerksamkeit war noch immer voll und ganz auf John gerichtet.
Für einen Moment trafen sich ihre Augen und Sheppard konnte in McKay deutlich den Kampf widersprüchlicher Gefühle lesen. Hilflosigkeit angesichts des Unvermögens einem Freund helfen zu können. Der Wille es trotzdem zu versuchen, auch wenn das bedeuten würde, Johns Wunsch nach mehr Freiraum zu ignorieren. Und Mitleid.
Oh, wie er das Mitleid hasste!
Nichts wollte er nach den letzten zwei Wochen mehr entfliehen als dem mitleidigen Ausdruck in den Augen derjeniger, die wussten, was geschehen war. So als ob sie glaubten verstehen zu können, wie er sich fühlen musste. Armer, gebrochener Colonel Sheppard.
Ein unsicherer Schritt von Rodney in seine Richtung brach den Bann und ließ John aufspringen. Durch seine Adern floss noch immer das durch den Alptraum erzeugte Adrenalin und trieb ihn mit nur wenigen Schritten durch die Tür des nahe liegenden oberen Ausgangs. In dem Moment als er hindurch war, schob er sie auch schon wieder zu und lehnte seinen Kopf gegen die glatte Holzoberfläche.
Mit pochendem Herzen versuchte er nach Geräuschen aus dem Inneren zu lauschen. Flehend murmelte er leise vor sich hin: „Bitte, lass ihn nicht hinter mir her rennen … bitte Rodney, versuch diesmal nicht ein guter Freund zu sein und lass mich einfach für einen Moment allein … bitte …“

***

Kaum hatte sich John von dem Wraith abgewandt und den Jumper betreten, hob das kleine Fluggerät auch schon ab und machte sich auf den Weg nach Atlantis. Nur Sekunden später war er von seinem Team umringt. Sheppard war sich bewusst, dass sie ihn seit ihrer Wiedervereinigung kaum aus den Augen gelassen hatten, doch bis auf die anfänglichen Fragen hatten sie ihn bisher größtenteils in Ruhe gelassen. So als ob die Anwesenheit des Wraith wie eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen gestanden hätte.
Mit einem Mal redeten alle gleichzeitig.
„Wie ist das möglich?“
„Er sieht wirklich jünger aus, Carson!“
„Kommen Sie, Colonel. Setzen Sie sich hin, damit ich Sie kurz durchchecken kann.“
Ein wenig überwältig, ließ sich John widerstandslos zu einer der Bänke des Jumpers dirigieren. Mit dem Abliefern des Wraith schien ihn alles Adrenalin plötzlich verlassen zu haben und ihn die Ereignisse des letzten Tages schließlich doch noch einzuholen. Müde ließ er sich auf die Bank fallen.
Teylas Hand lag unvermittelt wie ein schweres Gewicht auf seinem Arm und auch wenn die Geste sicherlich beruhigend gemeint war, brachte die Berührung seine Haut zum Kribbeln. Als auch Rodney seine Hand ausstreckte, wie um sich zu vergewissern, dass er wirklich real war, konnte John ein instinktives Zurückweichen nicht verhindern. Um dem verletzten Ausdruck in Rodneys Blick zu entkommen, schloss er, ohne die Erschöpfung vortäuschen zu müssen, seine Augen. Es war noch gar nicht so lange her, da war Sheppard überwältigt und unglaublich erleichtert gewesen, dass seine Freunde aufgetaucht waren, doch jetzt war zu müde, um auch nur zu versuchen, ihnen mit seinem üblichen Grinsen zu versichern, dass es ihm gut ging.
Es fiel ihm immer schwerer, den Worten um ihn herum zu folgen. Nach und nach verschwamm alles zu einem einheitlichen Gemurmel, dass direkt über ihm zu hängen schien.

***

Müde. Er war so müde.
Wann war das letzte Mal gewesen, das er eine Nacht hatte durchschlafen können?
Als klar war, dass ihm Rodney nicht folgen würde, drückte sich John mit einer kraftlosen Bewegung von der Tür ab und drehte sich um. Für einen Moment fehlte ihm die Orientierung, als ihn die durch die Fenster einfallenden Sonnenstrahlen blendeten.
Ein Blinzeln brachte den langen Flur, an dessen einem Ende John sich befand, wieder in den Focus. Hinter dem Treppenaufgang rechts von ihm gingen von dem lichtdurchfluteten Gang in regelmäßigen Abständen immer wieder Türen ab, die zu weiteren Unterrichtsräumen führten. Die nach Süden ausgerichtete linke Seite war dagegen mit einer großzügigen Glasfront ausgestattet.
Unsicher, was er jetzt machen sollte, gaben die warmen Sonnenstrahlen auf Johns Gesicht schließlich den Ausschlag. Er stieg die Treppe hinab und wandte sich eine Etage tiefer der nächstliegenden nach draußen führenden Tür zu. Entschlossen betrat er den mit weitläufigen Grünanlagen gestalteten Campus, um den sich die Gebäude der kleinen Universität gruppierten. Mit langen Schritten steuerte er direkt auf eine in der Sonne stehende leere Bank zu.
Auch wenn es die Kraft der Sonne nicht schaffte, alle in seiner Seele lauernden Schatten zu vertreiben, versuchte John für den Augenblick einfach nur so viel Licht wie möglich in sich aufzusaugen. Er konnte ein zufriedenes Seufzen nicht ganz unterdrücken, als er sich auf der Bank niederließ und sein Gesicht der Sonne entgegenreckte. Trotz geschlossener Augen verhinderten seine durch das Sonnenlicht in einem hellen Rot leuchtenden Lider, dass John wieder in die Dunkelheit abrutschte.
Für einige Minuten war das alles, was er brauchte. Das Licht und die beruhigenden Geräusche der ihn umgebenden Natur. Das leise Rascheln der sich in einer sanften Brise bewegenden Blätter eines nur ein paar Meter entfernt stehenden Baumes, das unbekümmerte Zwitschern von Vögeln und in der Ferne das vertraute Brummen eines Rasenmähers.
Eine Klingel störte schließlich Johns Ruhe. Nur kurze Zeit später begannen Stimmen den Hof zu füllen. Widerwillig öffnete er seine Augen und beobachtete, wie Studenten aus den verschiedenen Gebäuden strömten, um ihre Pause dazu zu nutzen, den schönen Tag zu genießen. Immer mehr Gruppen von jungen Leuten ließen sich auf dem Rasen nieder, um zu essen, sich zu unterhalten oder einfach nur in der Sonne zu liegen.
Das Bild des Friedens und der Unbekümmertheit, das sich John bot, ließ ihm schmerzhaft bewusst werden, dass so gut wie niemand auf der Erde auch nur ahnte, welche Gefahren 3.1 Millionen Lichtjahre entfernt lauerten. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er so etwas wie Neid in sich aufsteigen.
Und doch, trotz allem was er in den letzten Jahren gesehen und erlebt hatte, oder vielleicht auch gerade deswegen, würde John sein Leben gegen nichts auf der Welt eintauschen wollen. Erst recht gegen nichts, was es auf dieser Welt gab.
Er würde sich eben etwas mehr anstrengen müssen, um die Sache mit Kolya in den Tiefen seines Bewusstseins zu vergraben, damit er endlich wieder seinen Pflichten als militärischer Leiter von Atlantis nachkommen konnte. So sehr er sich auch von Elizabeth verraten fühlte, weil sie ihn gezwungen hatte „Urlaub“ auf der Erde zu machen, musste er zugeben, dass er in den letzten Wochen irgendwie neben sich gestanden hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Handlungen und Reaktionen waren wie die eines Fremden gewesen. Vieles von dem was er gesagt oder getan hatte, hatte er meist noch im gleichen Moment bereut und doch hatte er sich nicht stoppen können. Und je mehr er versucht hatte seine irrationale Seite zu unterdrücken und so zu tun, als wäre nichts passiert, desto schlimmer war es geworden.
Mit einer müden Bewegung rieb sich Sheppard über das Gesicht und durch die Haare. Ich werde mich wohl bei ein paar Leuten entschuldigen müssen, dachte er resigniert. Und beginnen kann ich gleich mit Rodney.
Ein Blick auf seine Uhr zeigte ihm, dass gerade mal fünfzehn Minuten vergangen waren, seit er den Hörsaal fluchtartig verlassen hatte. McKay würde wahrscheinlich immer noch mitten in seinen Ausführungen stecken, so dass es kein Problem sein dürfte, sich unauffällig zurückzuschleichen. Und doch war John abgeneigt, den strahlenden Sonnenschein erneut gegen das stickige Auditorium einzutauschen.
In Gedanken schon bei dem Abendessen, zu dem Rodney ihn zuzusagen als Belohnung für sein Mitkommen ‚eingeladen’ hatte, gab er sich noch fünf Minuten, bevor er wieder zurückgehen würde.

***

„Colonel Sheppard!“
Eine eindringliche, mit schottischem Dialekt sprechende, Stimme holte John aus seinem Halbschlaf zurück.
„Es tut mir leid, Sie wecken zu müssen, Colonel. Je schneller wir die Untersuchungen hinter uns bringen, desto schneller kann ich Sie weiterschlafen lassen.“
Überrascht wurde John bewusst, dass er sich auf einer Bettkante sitzend in der Krankenstation wiederfand. Er war zwar noch vollständig bekleidet, doch jemand hatte ihn bereits von seiner Weste und den Waffen befreit. Sheppard war sich nicht sicher, ob er beunruhigt sein sollte, dass er keinerlei Erinnerung daran hatte, wie er vom Jumper hierher gekommen war, entschied dann aber, dass er zu müde war, um sich Sorgen zu machen. Auch dass die Anderen auf einmal verschwunden waren und sich außer Carson und einer Krankenschwester niemand in seiner unmittelbaren Nähe aufzuhalten schien, war John nur recht.
Er war schon wieder dabei wegzudriften, als er plötzlich eine Hand an seiner Schulter spürte. Obwohl er fast im gleichen Moment noch erkannte, dass es Beckett war, der da direkt neben ihm stand, konnte John erneut ein instinktives Zurückzucken nicht mehr ganz unterdrücken.
Um den für ihn peinlichen Moment zu überspielen, stieß Sheppard das erste hervor, was ihm in den Sinn kam. „Es geht mir gut! Wirklich! Der Wraith hat alles rückgängig gemacht. Vielleicht sogar besser. Wie neu!“
„Aye, so sieht es aus. Doch wissen wir nichts darüber, was der Prozess in ihrem Körper angerichtet haben könnte. Gar nicht …“
„Carson.“ John war sich schmerzhaft bewusst, dass seine Stimme einen flehenden, fast weinerlichen Beiklang hatte.
„Gar nicht zu reden davon, was für einen Stress die wiederholten Nährungen für Ihren Körper bedeuten müssen.“ Das ‚und für ihre Seele’ sprach der Arzt zwar nicht extra aus, es klang aber deutlich mit. Genauso wie der verständnisvolle Blick nicht zu missverstehen war.
John spürte, wie mit einem Schlag alle Farbe aus seinem Gesicht wich und sich ein dicker Knoten in seinem Magen bildete. Oh Gott, die gesendeten Übertragungen! Wie viele hatten wohl gesehen, was passiert war? Er hatte geschrieen, oder? Da war ein Knebel gewesen – und doch konnte er sich an Schreien erinnern. Mit nervösem Schlucken versuchte John die aufsteigende Übelkeit in den Griff zu bekommen.
Als er schließlich den Kampf mit seinem Magen verlor, hatte Beckett längst die Zeichen gedeutet und hielt eine Schale vor Sheppards Gesicht. Nur, dass kaum etwas kam und ihn vorwiegend trockene Krämpfe schüttelten. Die Zeit schien sich ins Endlose zu ziehen, während John über der Schale hing. Beckett versuchte ihn mit einer kreisenden Handbewegung auf dem Rücken zu beruhigen, doch Johns Magenmuskeln zogen sich immer wieder krampfhaft zusammen und ließen ihn in den Pausen zitternd zurück.
Als die Krämpfe endlich aufhörten, war er so erschöpft, dass ihn nur noch Carsons Hand an der Schulter aufrecht hielt. Nachdem die bisher im Hintergrund gebliebene Krankenschwester die Schale weggenommen hatte, half Beckett John dabei, sich auf dem Bett auszustrecken.
„So ist es gut, Colonel. Lassen Sie mich einfach machen.“
Völlig ausgelaugt lag John mit geschlossenen Augen da. Noch während er Carsons Bewegungen lauschte, fing er wieder an zu dösen.
„He!“ Diesmal hatte ihn ein Stechen in seinem linken Handrücken geweckt. Unwillkürlich versuchte er seine Hand wegzuziehen, doch mit einem festen Griff und geübten Bewegungen hatte Beckett blitzschnell die Infusion fixiert.
„Das ist nicht nötig“, beschwerte sich John. „Es geht mir gut, ich brauche nur etwas Ruhe. Und Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich die hier in der Krankenstation niemals finden werde.“
Doch Beckett schaute ihn nur unbeeindruckt an. „Ihr Elektrolythaushalt ist nicht überraschend ein wenig durcheinander und die Infusion ist der schnellste Weg dagegen vorzugehen. Denn seien Sie ehrlich, es ist doch schon ein Weilchen her, dass sie das letzte Mal etwas getrunken haben, Colonel. Oder etwas gegessen haben.“
„Keine Ahnung“, kam es kaum wahrnehmbar zurück. In Wahrheit wusste er es genau: das Frühstück, kurz bevor sie durch das Stargate gegangen waren, vor ... Sheppard wurde bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie viel Zeit eigentlich genau vergangen war. Sicherlich mehr als ein Tag. Und doch verspürte er weder Hunger oder Durst. Es war, als ob der Wraith ihm nicht nur die Lebensenergie zurückgegeben hatte, sondern ihn irgendwie auch ‚genährt’ hatte. Konnten Menschen eigentlich auf diese Weise überleben, wenn sie einen Wraith hatten, der bereit war, sie mit zu ‚ernähren’?
Mit einem Schaudern erinnerte sich John daran, woher diese Energie jedoch kommen müsste und ihm wurde klar, dass er lieber sterben würde, als sich auf die Art am Leben zu halten. Und trotzdem war er froh, dass er sein Leben zurück erhalten hatte. Er konnte auch damit leben, dass dafür einige von Kolyas Männern hatten sterben müssen. Schließlich hatten sie ihn zuerst angegriffen und er hatte sich letztendlich nur gewehrt. Indem er sich mit einem Wraith zusammengeschlossen hatte ... Ein weiteres Schaudern ging durch Johns Körper. Durch einen Wraith das Leben ausgesaugt zu bekommen, war etwas, das Sheppard – vor allem nachdem er es am eigenen Leib erfahren hatte – nicht einmal seinem schlimmsten Feind wünschen würde.
Eines schwor er sich, Kolya würde eine weitere Begegnung nicht überleben.
„John!“
Sheppard blinzelte in Carsons besorgtes Gesicht. Der Arzt musste schon seit einem Weilchen versucht haben, ihn anzusprechen.
„Sorry, Doc, war wohl mit meinen Gedanken ganz woanders.“
Und da war er wieder, dieser verständnisvolle und Mitleid verströmende Blick. John bis die Zähne zusammen, um die auf der Zunge liegende sarkastische Bemerkung zurückzuhalten. Er konnte nicht jedes Mal, wenn jemand Mitleid zeigte, auf Konfrontationskurs gehen. Es war klar, dass so gut wie alle in Atlantis wussten, was passiert war, entweder weil sie die Übertragungen gesehen hatten oder dank der gut funktionierenden Gerüchteküche. Ständige Konfrontation würde in den nächsten Tagen nicht nur seine Beziehungen zu den anderen Expeditionsmitgliedern belasten, sondern ihn auch unnötige Kräfte kosten. Er würde ihnen auf einem anderen Weg klarmachen müssen, dass er kein Mitleid und erst recht keine Schonbehandlung wollte. Am Besten wäre es, wenn alles seinen gewohnten Gang gehen würde.
„Ich habe die Untersuchungen erst einmal abgeschlossen. Wir müssen natürlich noch abwarten, was die Bluttests ergeben, aber es sieht so aus, als ob es Ihnen angesichts des Geschehenen überraschend gut gehen würde“, berichtete Carson mit einem freundlichen Lächeln.
„Okay, wann kann ich hier raus?“
„Sollten Sie noch wach sein, wenn die Infusion durchgelaufen ist, können wir noch einmal darüber reden.“ Damit wandte sich der Arzt zum Gehen und Sheppard blieb nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen. Auch wenn er sich fest vorgenommen hatte, wach zu bleiben, war er innerhalb von nur wenigen Minuten eingeschlafen.

weiter: Kapitel 2
Kapitel 2 by Lorien
Kapitel 2

Manchmal zahlte es sich echt aus, ein Genie zu sein. So hatte Rodney keinerlei Probleme damit, seinen Vortrag zu halten, gleichzeitig unauffällig Sheppard im Auge zu behalten und seine Gedanken wandern zu lassen. Zugegeben, das Thema seiner Präsentation war im Vergleich zu den Dingen, mit denen er sonst in Atlantis beschäftigt war, nicht gerade hochkompliziert. Aber immerhin durfte er im Gegensatz zu Colonel Carter und Dr. Lee vor nicht allzu langer Zeit etwas vorstellen, das tatsächlich funktionierte. Und wer weiß, vielleicht schaffte es seine eher zufällige Entdeckung – während er gerade mal wieder dabei gewesen war, zwei Galaxien gleichzeitig vor dem Untergang zu bewahren – der Steigerung der Effizienz bei der Gewinnung erneuerbarer Energien eines Tages die Welt zu verbessern. Zumindest so lange, bis es ihnen gelang ein Lager mit voll geladenen ZPMs zu finden – oder noch besser, bis er irgendwann eine Möglichkeit erfinden würde, sie selbst herzustellen.

Trotzdem, wäre es nicht für den Mann gewesen, der gerade in der hintersten Reihe des Auditoriums herumlungerte, hätte sich Rodney nie dazu herabgelassen, den Vortrag zu halten. Er hoffte nur, dass Sheppard diese Geste zu schätzen wusste, immerhin könnte McKay die Zeit auch nutzen, um etwas wirklich Wichtiges zu erfinden.

Rodney stoppte seine wandernden Gedanken mit einem innerlichen Schnauben. Wem versuchte er hier eigentlich etwas vorzumachen? Das Ganze war schließlich seine eigene Idee gewesen. Möglichst beiläufig riskierte er einen weiteren Blick in Sheppards Richtung und stellte überrascht fest, dass der nicht nur drei Stühle auf einmal beanspruchte, sondern auch zum ersten Mal seit Wochen mehr oder weniger entspannt wirkte. Da er nur aus dem Augenwinkel heraus schielte, konnte er sich nicht ganz sicher sein, doch es sah so aus, als ob Sheppard sogar ein leichtes Lächeln im Gesicht hatte.

Das war definitiv ein Fortschritt. Erleichtert und mit mehr Elan als bisher, setzte Rodney seine Erläuterungen fort. Er konnte es kaum noch erwarten fertig zu werden, um zum angenehmeren Teil des Tages zu kommen. Auch wenn er sich eher die Zunge abschneiden würde, als es laut auszusprechen, freute er sich auf das Abendessen, zu dem er Sheppard als Ausgleich für die Teilnahme an dieser kleinen Konferenz ‚eingeladen’ hatte.

Während er sich zur Projektionswand drehte und auf Besonderheiten in den gezeigten Gleichungen hinwies, kalkulierte er in Gedanken, wie lange die Präsentation noch etwa dauern würde. Wenn er ein wenig schneller redete, vermutlich nicht länger als etwa 30 bis 35 Minuten. Das funktionierte aber nur, wenn die hier sitzenden so genannten Wissenschaftler alles sofort verstanden hatten und nicht anfangen würden, ihn endlos mit dummen Fragen zu nerven.

Und nicht während seines Vortrags schlafen würden! Er konnte es nicht fassen, doch die Geräusche, die hinter seinem Rücken aus dem Auditorium zu kommen schienen, waren unmissverständlich. Schnarchen! Da wagte es doch tatsächlich jemand zu schnarchen!

Mit unverhehlter Missbilligung wandte sich Rodney seinem Publikum zu. „Wer nachts nicht schlafen kann, sollte die Güte haben, meine kostbare Zeit nicht damit zu vergeuden, dass er das hier nachholt. Sie bezeichnen sich alle als ambitionierte Wissenschaftler, da sollten Sie ein wenig Schlafmangel verkraften können. Ich habe einmal …“

Die Worte blieben Rodney im Halse stecken, als er erkannte, woher die Laute gekommen waren. Noch vor zwei Wochen wäre Sheppard einer bissigen Bemerkung des Wissenschaftlers nicht entkommen, doch jetzt war dieser viel zu erleichtert, seinen Freund überhaupt schlafen zu sehen. Auch wenn dessen Haltung nicht gerade bequem aussah. So tief wie der Kopf auf der Brust hing, war es ein Wunder, dass Sheppard überhaupt Luft bekam.

Und obwohl er es beinahe versucht hätte, konnte McKay seine Präsentation mit der Ablenkung im Hintergrund nicht wirklich beenden. Schweren Herzens entschied er sich dazu, Sheppards Nickerchen zu beenden.

„Sheppard!“ Der Ausruf ergab keine sichtbare Reaktion.

„Sheppard!“, versuchte er es noch etwas lauter.

Plötzlich wurde der Schlaf des Piloten unruhig und er begann rastlos auf dem Stuhl herumzurutschen. Ein scheinbar tief aus dem Inneren kommendes Stöhnen jagte eine Gänsehaut über Rodneys Rücken. Mittlerweile hatte sich der gesamte Saal umgedreht und alle Augen waren auf Sheppard gerichtet. Als aus dem Stöhnen ein Wimmern wurde, blieb Rodney nichts anderes übrig, als zu handeln. Er wusste wie sehr Sheppard es hasste im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Der Mann zeigte nie auch nur ein bisschen von dem was tatsächlich in ihm vorging und würde immer noch behaupten, dass alles in Ordnung wäre, wenn er schon verblutend am Boden liegen würde. Da würde Sheppard sicherlich nicht wollen, dass ein ganzer Raum voller fremder Leute ihn bei einem Alptraum beobachten konnte.

Rodneys laut gerufenes „JOHN!“ hallte dank der guten Akustik durch das gesamte Auditorium.

Diesmal konnte man das Ergebnis fast schon als spektakulär bezeichnen, als Sheppard mit einem halb in der Kehle stecken gebliebenem Schrei aus dem Schlaf aufschreckte. Für einen Moment schaute er sich unsicher um, bevor er mit einem wackligem Lächeln versuchte die Stimmung aufzulockern.

„Äh … Hi! Sorry für die Unterbrechung.“

Doch Rodney erkannte genau, wie gequält das Lächeln war. Was sollte er jetzt machen? Er konnte doch nicht einfach so tun, als ob nichts gewesen wäre und mit seinen Gleichungen und Schaltplänen fortfahren. Auch wenn das sicherlich genau das war, was Sheppard wollte. Zaghaft machte Rodney einen unbewussten Schritt in dessen Richtung.

Daraufhin sprang Sheppard wie ein verschrecktes Tier auf und verschwand durch den Ausgang. Alles war so schnell gegangen, dass Rodney nicht einmal Zeit zum Blinzeln gehabt hatte. Sekunden verstrichen und er starrte noch immer wie vor den Kopf geschlagen auf den jetzt leeren Platz. Ein Räuspern aus dem Publikum löste schließlich seine Erstarrung.

„Ja … also … Wo war ich stehengeblieben? Ach ja … Wie Sie hier sehen können, wenn Sie sich die Mühe machen würden genau zu schauen, kann man …“ Nicht wirklich mit seinem Herzen bei der Sache, fuhr Rodney in seinem Vortrag fort, während seine Gedanken eine ganz andere Richtung nahmen …

***

Das konnte doch nicht wahr sein! Was dachte sich dieser schottische Voodoo-Künstler eigentlich dabei, sie hier alle vor der Tür warten zu lassen? Sie hatten ein Recht darauf zu sehen, wie es Sheppard ging, schließlich waren sie sein Team!

Mehr pikiert als wirklich wütend stapfte Rodney zum wiederholten Male innerhalb von nur wenigen Minuten durch den kleinen Vorraum, um an der Tür auf jedwede Geräusche aus der dahinterliegenden Krankenstation zu lauschen. Dabei war es ihm egal, dass er mittlerweile allen Anwesenden auf die Nerven ging. Er hatte sich schließlich Mühe gegeben! Für geschlagene 41 Minuten hatte er stillgesessen - oder zumindest so etwas in der Art versucht - und geduldig darauf gewartet, dass Beckett herauskam, um sie über Sheppard zu informieren. Das war lang genug gewesen. Wie lange brauchte man schon, um einen scheinbar gesunden Mann zu untersuchen? Sie hatten doch alle gesehen, dass es Sheppard gut ging. Der Mann war sogar selbstständig zur Krankenstation gegangen! Zugegeben er wirkte dabei etwas weggetreten und war ein- oder zweimal falsch abgebogen, aber das war doch nichts wirklich Neues und damit auch kein Grund zur Sorge.

Oder?

Ohne es zu merken war Rodney auf seiner Wanderung wieder bei seinem Stuhl angekommen. Für einen Moment stand er unschlüssig da, bevor er sich mit einem theatralischen Aufseufzen setzte. Doch es dauerte kaum zwei Minuten, bis er aufsprang und seine Wanderung erneut aufnahm. Während Teyla Rodney nur verständnisvoll nachlächelte, sah Elizabeth aus, als ob sie etwas sagen wollte, sich dann aber doch anders entschied. Ronon dagegen zog eines seiner vielen Messer hervor und starrte McKay herausfordern an, während er demonstrativ damit herumspielte. Hätte Rodney auch nur für einen Augenblick innegehalten, um den Satedaner zu beobachten, hätte die drohende Geste vielleicht ausgereicht, um ihn für weitere fünf Minuten auf seinem Stuhl zu halten.

Allerdings war sich McKay der Gefahr absolut nicht bewusst. Vielmehr wanderten seine Gedanken unvermeidlich zurück zu den Geschehnissen des letzten Tages. Die Verzweiflung, die er während der Übertragungen empfand, war in seiner Erinnerung noch genauso intensiv wie die Erleichterung und der Unglaube, als sie Sheppard unversehrt fanden.

Von allen Menschen, denen Rodney je begegnet war, war Sheppard derjenige, bei dem es ihm am wenigsten überraschte, dass er einen Weg gefunden hatte, das zu überleben. Jeder sonst hätte nach der ersten Nährung aufgegeben und sich seinem Schicksal gefügt. Welcher Mensch, der halbwegs bei Verstand war, würde auch schon auf die Idee kommen, sich mit einem Wraith zu verbünden? Beziehungsweise, wer konnte es normalerweise überhaupt schaffen, einen Wraith auf seine Seite zu ziehen? Wer, außer Sheppard? Viel zu oft hatte Rodney nicht die leiseste Ahnung, was im Kopf seines Teamleiters vorging. Die Ideen, die unter dem verboten gehörenden Haarschopf entstanden, waren meist so verrückt, dass sie eigentlich niemals funktionieren dürften. Und doch schaffte es der Mann, jeder Logik zum Trotz, immer wieder zu überleben – und nicht selten auch alle anderen mehr oder weniger heil nach Hause zu bringen. Rodney hatte längst aufgegeben mitzuzählen, wie oft Sheppard schon dem scheinbar sicheren Tod gegenüber gestanden hatte, nur um ihm dann im allerletzten Moment von der Schippe zu springen.

Irgendwann im Laufe der letzte drei Jahre hatte er sich daran gewöhnt, dass der Colonel immer da sein würde. Deshalb war es um so schwerer zu ertragen gewesen, als es diesmal so aussah, als ob Sheppard das Glück schließlich doch verlassen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben wäre Rodney bereit gewesen, einen anderen Menschen kaltblütig zu töten. Und das machte ihn nervöser, als er bereit war zuzugeben. Er war Wissenschaftler und kein Soldat! Er sollte sich danach sehnen, so viel Zeit wie möglich in seinem Labor verbringen zu können und nicht das Bedürfnis verspüren, einem Psychopaten hinterher zu jagen, nur damit dieser nicht noch einmal auch nur in die Nähe von Sheppard gelangen konnte.

Nach, wie es Rodney vorkam, Stunden öffnete sich endlich die Tür zur Krankenstation. Jetzt sprangen auch die anderen von ihren Sitzplätzen auf und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Beckett.

„Wie geht es Sheppard?“

„Können wir zu ihm?“

„Warum hat das solange gedauert?“

„Sind irgendwelche Nebenwirkungen zu erwarten?“

„Nebenwirkungen? Was für Nebenwirkungen? Dass er jetzt jünger aussieht als zuvor?“

„Carson?“

Unbeeindruckt von den auf ihn einstürmenden Fragen führte der Arzt die kleine Gruppe ein Stück von der Tür weg, bevor er mit seinem Bericht begann.

„Die vorläufigen Untersuchungen haben ergeben, dass es Colonel Sheppard so weit gut geht. Er ist ein wenig dehydriert und auch die letzte Mahlzeit ist schon ein bisschen her, doch das ist nichts, was man nicht mit einer Infusion ausgleichen kann. Wir werden sehen, was die Blutuntersuchungen ergeben, aber es sieht so aus, als ob das schlimmste seiner körperlichen Symptome eine schwere Erschöpfung ist.“

„Können wir ihn sehen?“, fragte Teyla erneut.

„Im Moment lieber nicht.“ Beckett schaute sie entschuldigend an. „Er war so erschöpft, dass er fast sofort eingeschlafen ist. Und es wäre besser, wenn er so viel ungestörten Schlaf wie nur möglich bekommt, da fast mit Sicherheit zu erwarten ist, dass der Colonel unter Alpträumen leiden wird. Niemand kann so etwas überleben und unberührt von den Ereignissen davongehen.“

„Vielleicht sollten wir ihn dazu bringen, Sitzungen mit Dr. Heightmeyer zuzustimmen.“

„Viel Glück dabei, Elizabeth“, warf McKay mit einem Schnauben ein. „Sheppard würde sich doch lieber mit einer Wraith-Queen anlegen, als freiwillig mit Kate Heightmeyer zu reden.“

„Wenn es sein muss, kann ich es auch zu einer Vorraussetzung für die Wiederaufnahme seines Dienstes machen“, fuhr Weir, nicht wirklich von ihrem Vorschlag überzeugt, fort.

„Ich stimme zu, dass wir versuchen sollten, Colonel Sheppard dazu zu bringen, über das Erlebte zu reden. Nur weiß ich nicht, ob es eine so gute Idee ist, ihn zum jetzigen Zeitpunkt dazu zu zwingen. Bei solchen Sitzungen sollte der Patient zumindest bereit sein es zu versuchen. Sheppard hat genug Erfahrungen mit Psychologen, dass ich befürchte, wenn er nicht reden will, dann wird ihn auch keiner dazu bringen. Wenn wir ihn zwingen, wird er sich wahrscheinlich nur noch mehr verschließen.“ Während er weiter sprach, nahm sich Carson die Zeit, mit jedem von Sheppards Team für einen Moment Blickkontakt aufzunehmen. „Vielleicht gelingt es uns aber auch, dass er sich seinen Freunden gegenüber öffnet. Mit irgendjemandem sollte er über das Erlebte reden. Er wird es nicht einfach ignorieren können. Auf jeden Fall würde ich vorschlagen, dass der Colonel seinen Dienst nicht sofort wieder antritt.“

Ohne zu Zögern schloss sich Weir dem Vorschlag an. „Einverstanden, Carson. Geben wir ihm ein paar Tage alles zu verarbeiten.“

„Ähm … Ich glaube auch hier nicht, dass ihm diese Idee gefallen wird.“

„Ja, Rodney, das ist mir bewusst. Da ich nicht vorhabe, Sheppard Bettruhe zu verordnen, kannst Du ihn vielleicht ein wenig ablenken. Zeit mit ihm verbringen. Ihr alle. Seid einfach für ihn da. Und wir werden sehen, wie es sich weiter entwickelt, ob irgendwelche längerfristigen Probleme zu erwarten sind. Schon jetzt deutet sich an, dass Colonel Sheppard noch mehr Probleme mit Berührungen hat, als bisher.“

„Wir werden diese Aufgabe gern übernehmen“, sagte Teyla mit einem leichten Neigen ihres Kopfes.

„Ich weiß. Doch genug für heute. Es ist spät und ich bin mir sicher, uns allen fehlt Schlaf. Kommt morgen früh wieder.“ Der müde Ausdruck in Becketts Gesicht unterstrich seine Worte nur noch.

Widerstrebend löste sich die kleine Gruppe auf. Dabei konnte Rodney ein unangenehmes Gefühl nicht ganz unterdrücken und murmelte im Gehen „schlechte Idee, ganz schlechte Idee“ vor sich hin. Das Problem war nur, dass er selbst auch nicht mit Sicherheit bestimmen konnte, was so schlecht war.

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Erst als sein Kopf zur Seite wegkippte, merkte Sheppard, dass er schon wieder am Einnicken war. Erschrocken riss er die Augen auf und setzte sich aufrechter hin. Er konnte nicht schlafen! Nicht hier, nicht in der Öffentlichkeit! Die Vorstellung, dass weitere Leute einen seiner Alpträume hätten mitbekommen können, ließ Johns Magen krampfhaft zusammenziehen. Er wusste, dass er Schlaf brauchte, aber bestimmt nicht auf einer Parkbank auf einem stark frequentierten Campus!

Ein Blick in die Umgebung zeigte John jedoch, dass sich der Hof in der Zwischenzeit zu einem großen Teil wieder geleert hatte und sich kein Student mehr in unmittelbarer Nähe befand. Die fünf Minuten, die er sich noch in der Sonne hatte gönnen wollen, mussten längst um sein. Als er auf seine Uhr schaute, sah er, dass fast zwanzig Minuten vergangen waren. Widerwillig stand Sheppard auf, um zurückzugehen und McKay abzufangen, bevor dieser begann, die Universität auf der Suche nach John umzukrempeln.

Keine fünf Schritte später hörte John, wie sich hinter ihm schnelle Schritte und gedämpfte Stimmen näherten. Für einen Moment hatte er das Gefühl, zurück auf Kolyas Planeten zu sein, umgeben von einem Wald und einer Bande Genii, die ihn jagten. Instinktiv griff er an seine rechte Seite, wo sich normalerweise seine Handfeuerwaffe befand. Gleichzeitig drehte er sich mit einer fließenden Bewegung und klopfendem Herzen um. Sheppard hätte vor Erleichterung beinahe aufgelacht, als er erkannte, dass die beiden dunkel gekleideten Gestalten nur ein paar halbwüchsige Jungs von vielleicht gerade mal zwanzig Jahren waren, die vermutlich auf dem Weg zu einer Vorlesung waren. Unzufrieden mit sich selbst und seiner übertriebenen Reaktion, versuchte John mit einer bewussten Anstrengung seine gespannte Körperhaltung zu lösen. Die beiden Studenten schienen nichts von seinem ungewöhnlichen Verhalten mitbekommen zu haben und setzten ihren Weg unbeeindruckt fort. Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis die beiden so nah waren, dass John einzelne Worte ausmachen konnte.

„Los, mach schon! Beeil dich ein wenig!“

„Es ist nicht meine Schuld, dass wir so spät dran sind. Wer von uns war denn unzufrieden mit dem Parkplatz!“

„Du weißt genau, dass wir schnell wieder verschwinden müssen. Verdammt, das bringt unseren ganzen Zeitplan durcheinander!“

Sheppard war schon immer jemand gewesen, der sich von seinen Instinkten zwar nicht alles diktieren ließ, in vielen Situationen jedoch nur deshalb überlebt hatte, weil er bereit gewesen war, auf das zu achten, was sie ihm versuchten zu sagten. Und als jetzt eine Ahnung dafür sorgte, dass sich die Haare auf seinen Armen aufrichteten, nahm er sich die Zeit, die Jungen genauer zu betrachten.

Auf den ersten Blick schienen sich die beiden in nichts von den anderen Studenten auf dem Campus zu unterscheiden. Allenfalls waren sie für einen so warmen Sonnentag in ein wenig zu viel Schwarz gekleidet, doch was wusste John schon über die Trends nach denen sich die Kids von heute richteten? Bei eingehender Betrachtung wirkten sie jedoch eigenartig nervös. Auch wenn sie ab und zu unsichere Blicke auf ihre Umgebung richteten, schienen sie sie nicht wirklich wahrzunehmen. Mittlerweile waren die Jungen genau auf Sheppards Höhe angekommen, doch zeigten sie mit keiner Geste an, dass sie sich seiner Anwesenheit überhaupt bewusst waren. Der etwas größere der beiden war einen Schritt vor dem anderen und zerrte seinen Begleiter hinter sich her. Der wiederum klammerte sich an einen Rucksack, den er mit beiden Armen gegen seine Brust presste. Sie wirkten total angespannt, so, als ob sie vor einem wichtigen Ereignis standen, das sie zugleich fürchteten und kaum erwarten konnten.

„Wir dürfen nicht zu spät kommen!“

„Ich weiß, ich weiß …“, kam die keuchende Antwort. „Aber es hieß doch, dass der Typ sich so gerne reden hört, da wird er bestimmt noch nicht fertig sein.“

„Hoffentlich! Hast du alles dabei?“

Diesmal sparte sich der zweite Junge die Worte, stattdessen löste er die Umklammerung des Rucksacks ein wenig, um ihn ein kleines Stück zu öffnen. Obwohl die beiden schon ein paar Meter entfernt waren, sah John für einen Augenblick wie das Sonnenlicht von Metall im Inneren der Tasche reflektiert wurde. Wenn auch diesmal aus völlig anderen Gründen spürte Sheppard, wie sich sein Magen zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit unangenehm zusammenzog. Was er gesehen hatte, war unmissverständlich gewesen. Er hatte in seiner Laufbahn oft genug mit Waffen zu tun gehabt und was er in dem Rucksack entdeckt hatte, war eindeutig eine Pistole gewesen.

John Sheppard glaubte nicht an Schicksal. Zumindest glaubte er nicht daran, dass er selbst mit übermäßig viel Glück gesegnet war. Wie sonst konnte es sein, dass er immer wieder in die unmöglichsten Situationen geriet? Was er auch machte, wohin er sich auch wandte, überall schien der Ärger bereits auf ihn zu warten. So dürfte es ihn eigentlich nicht überraschen, dass sein als Erholung gedachter Heimaturlaub im Begriff war, hektisch und gefährlich zu werden. Und doch kam ihm nicht für eine Sekunde der Gedanke, sich zurückzuhalten und zuzulassen, dass jemand anderes das Problem lösen würde.

Vorsichtig setzte er sich in Bewegung und versuchte den beiden so unauffällig wie möglich zu folgen. Seine dunkelsten Befürchtungen schienen sich zu verdichten, als sie das nächstliegende Gebäude durch genau die Tür betraten, die John vor gar nicht so langer Zeit selbst benutzt hatte. Sprich, im schlimmsten Fall waren sie in genau der Richtung unterwegs, in der sich Rodney befand. Unwillkürlich beschleunigte der Colonel seine Schritte um aufzuschließen. Unglücklicherweise verhinderten die das Sonnenlicht spiegelnden Glasflächen, dass er erkennen konnte, wohin genau sich die Jungen als nächstes wandten.

Als er an der Tür angekommen war, nahm sich Sheppard einen kurzen Augenblick Zeit, um tief durchzuatmen und letzte Unsicherheiten abzuschütteln. Sein militärisches Training hatte bereits bei den erstes Anzeichen von Ärger dafür gesorgt, dass die Erinnerungen an die letzten Wochen in die Tiefen seines Unterbewusstseins verdrängt wurden und sich sein Körper und sein Verstand einzig und allein auf die potentielle Bedrohung konzentrierten. Doch die Tatsache, dass sich ein Mitglied seines Teams möglicherweise in Gefahr befand, machte die Situation noch eindringlicher. Schon bevor sie gekommen waren, um ihn aus Kolyas Händen zu befreien, hätte er alles für Rodney, Teyla und Ronon getan – jetzt war er um so mehr dazu bereit, im Notfall sein Leben dafür zu geben, um jeden Einzelnen von ihnen in Sicherheit zu wissen.

Langsam aber entschlossen öffnete John die Tür und steckte seinen Kopf vorsichtig durch die Öffnung. Ein schneller Blick in beide Richtungen zeigte ihm, dass der Gang verlassen dalag. Nur auf einer Seite deuteten die im Sonnenlicht tanzenden Staubkörner auf nicht allzu lang zurückliegende Bewegungen hin. Die beiden Jungs mussten hier durch gekommen und bereits durch eine der geschlossenen Türen verschwunden sein. Es war tatsächlich genau die Richtung, in der auch der Raum lag, in dem Rodney seine Präsentation zeigte.

Mit einer geschmeidigen Bewegung hatte John die Glastür vollständig geöffnet und das Gebäude betreten. Die Befürchtung, jeden Moment Pistolenschüsse zu hören, trieb ihn in Sekundenschnelle an die letzte Tür des Ganges, bei der es sich um den unteren Zugang des Auditoriums handelte. Vorsichtig presste er sein Ohr gegen das Holz. Zunächst fiel es ihm schwer, durch das Klopfen seines Herzens hindurch überhaupt etwas zu hören. Und auch als es sich etwas beruhigt hatte, waren alle durch das Holz dringenden Geräusche nur gedämpft hörbar. Ohne irgendwelche Worte verstehen zu können, konnte Sheppard schließlich zwei verschiedene Stimmen ausmachen, die sich einen mehr oder weniger hitzigen Schlagabtausch lieferten. Der Sarkasmus, der in der einen Stimme mitschwang, ließ John beinahe Sympathie für den Empfänger der Worte empfinden. In seinem Kopf formte sich unvermittelt ein Bild von Rodney, der in unvergleichlicher Arroganz vor Leuten stand, die er für unter seinem Niveau hielt, während diese mit einer Waffe herumfuchtelten und er sie ungerührt mit einer seiner Tiraden zusammenstauchte.

Noch vor zwei Jahren wäre der Kanadier in den meisten gefährlichen Situationen ein nervliches Wrack gewesen. Und auch wenn ihn die Pegasus Galaxie zwangsweise gelehrt hatte, mit den meisten Bedrohungen umzugehen, würde er in vielen beängstigenden Situationen noch immer nervös werden. Die Tatsache, dass John keinerlei Unsicherheit in McKays Stimme hörte, ließ ihn auf einmal zweifeln, ob er sich die Bedrohung durch die zwei Studenten nicht vielleicht doch nur eingebildet hatte. Eine Überreaktion geboren aus der Angst um einen Freund.

Doch nein, das war eindeutig eine wütende Erwiderung. Auf einmal wurde das durch das Holz gedämpfte Gespräch ungleich hitziger.

Plopp!

Kaum hörbar und doch konnte es Sheppard sofort identifizieren. Das Geräusch eines durch einen Schalldämpfer abgemilderten Schusses sorgte dafür, dass sein Herz für einen Schlag lang aussetzte. Nein … Die plötzliche Stille hinter der Tür ließ Johns Knie weich werden und nur mit einer Willensanstrengung konnte er verhindern, dass er zu Boden ging. Das Schweigen wurde schließlich durch etwas, das wie ein Befehl klang unterbrochen. Aber erst als John die gemurmelte Antwort eindeutig Rodney zuordnen konnte, gelang es ihm, die bis dahin angehaltene Luft entweichen zu lassen und endlich weiterzuatmen.

Für einen Moment schloss er erleichtert die Augen. Das war zu knapp gewesen! Er musste etwas unternehmen - und zwar sofort! Mit neuer Energie löste sich John von der Tür.

Doch zuerst … Wo hatte er es nur hingepackt? Hier! Sheppard fischte sein Handy aus der Hosentasche und schaltete es ein, während er sich gleichzeitig ein Stück von der Tür entfernte. Es schien ewig zu dauern, bis das kleine Telefon endlich anzeigte, dass es ein Netz gefunden hatte. Ungeduldig suchte John eine der eingespeicherten Nummern heraus, um das SGC anzurufen und sich direkt zu General Landry durchstellen zu lassen. Mit wenigen Worten schilderte er, was vorgefallen war und gab seine Einschätzung der Situation wieder.

John hatte das Gefühl, ihm würde die Zeit davonlaufen. Während er hier draußen herumstand, befand sich Rodney in allerhöchster Gefahr. Nervös begann er beim Reden auf und ab zu tigern. Glücklicherweise erkannte der General die Dringlichkeit der Lage und hielt das Gespräch so kurz wie möglich. Nachdem er aufgelegt hatte, informierte Sheppard, wie mit Landry abgesprochen, die örtliche Polizei. Doch deren Aufforderung, dass er sich zurückhalten sollte, bis Beamte vor Ort waren, quittierte er nur mit einem unbestimmten Grunzen. Er war vielleicht nicht speziell für Geiselsituationen ausgebildet, aber dank seines militärischen Hintergrundes hielt er sich für durchaus befähigt, etwas dagegen unternehmen zu können. Vor allem, da es sich hier nur um zwei Halbwüchsige zu handeln schien und er hatte schon ganz andere Sachen überstanden. Okay, es waren zwei bewaffnete Halbwüchsige, aber trotzdem! Zumal … Rodney war da drin …

Während er das Handy wieder wegsteckte, schaute sich Sheppard um und ging in Gedanken verschiedene Szenarien durch. Er musste irgendwie in den Raum gelangen, ohne sofort erschossen zu werden. Dabei würde ihm sein Äußeres sicherlich zugute kommen. Selbst in voller Kampfausrüstung machten viele seiner Gegner - zumindest bei der ersten Begegnung – aufgrund seiner schlanken Gestalt den Fehler, ihn zu unterschätzen. Heute, in seiner Freizeitkleidung, einem dunklen Shirt und einer hellen Stoffhose, würde er hoffentlich möglichst harmlos wirken.

Auf der Suche nach weiteren Ideen und eventuellen Hilfsmitteln, wandte sich John den anderen Türen des Ganges zu. Die ersten beiden Räume waren abgeschlossen und im dritten fand gerade eine Vorlesung statt. Eine Entschuldigung murmelnd zog er sich zurück und schloss die Tür wieder. Einen Moment lang zögerte Sheppard, unsicher ob es nicht vielleicht besser wäre, den Raum unter einem Vorwand evakuieren zu lassen, bevor er sich dafür entschied, dass es das Risiko nicht wert war. Die Gefahr, dass etwas schief gehen und eine Panik ausbrechen würde, wodurch die beiden bewaffneten Jungs alarmiert werden würden, war einfach zu groß. Viel wahrscheinlicher war, dass die Leute in diesem Raum von den Geschehnissen nebenan gar nichts mitkriegen würden. Zumindest dann nicht, wenn es ihm gelang, die Situation schnell zu klären. Also suchte er weiter.

Beim vierten Versuch hatte John schließlich mehr Erfolg und fand einen Raum, der nicht abgeschlossen oder belegt war. Fast sofort fiel ihm der in der gegenüber liegenden Ecke stehende Besen auf. Bei dessen Anblick begann sich eine Idee in seinem Kopf zu formen. Schnelle Schritte brachten ihn direkt dahin und mit nur wenigen Griffen hatte er den Holzstiel vom Borstenkopf getrennt. Kurz übers Knie gelegt und schon hatte er zwei etwa gleich große Stöcke, die mit etwas Fantasie den von Teyla verwendeten Kampfstöcken zumindest ähnelten. Dann steckte er sie so hinten in den Hosenbund, dass er mit einem Griff über die Schulter leicht nach den Stöcken greifen konnte. Solange er seinen Rücken von den Angreifern abgewandt hielt, würden sie sie nicht sehen können.

So ausgerüstet, machte sich Sheppard auf den Weg, den Raum zu verlassen. Er war schon fast an der Tür, als er aus den Augenwinkeln auf einem der Tische etwas liegen sah. Er konnte es kaum glauben, als er erkannte, dass jemand seine Brille liegen gelassen hatte. Damit würde er seine Erscheinung noch etwas harmloser gestalten und mehr wie die im Publikum sitzenden Wissenschaftler wirken können. Und sein Glück hielt an. Auch wenn die Brille etwas locker saß, war die Stärke der Brillengläser trotz des dunklen, dicken Hornrahmens relativ gering. Dadurch war es nicht allzu unangenehm, durch die Gläser zu schauen und Sheppard konnte sich ohne größere Probleme an die leicht verschwommene Sicht gewöhnen. Für die paar Minuten, die er benötigte, um seine Gegner zu täuschen, würde er damit sicherlich klarkommen. Um seine „Verkleidung“ zu vervollkommnen, fuhr John mit den Händen über seine Haare und versuchte sie dazu zu bringen nicht mehr so abzustehen, sondern flach anzuliegen. Da er keinen Spiegel zur Hand hatte, konnte er nicht feststellen, von wie viel Erfolg diese Aktion gekrönt war.

So gut vorbereitet, wie es in der kurzen Zeit möglich gewesen war, fand er sich schließlich an der Tür wieder, hinter der sich Rodney in der Gewalt von zwei gefährlichen Bewaffneten befand. Er hatte sich dazu entschieden, sein Glück mit dem oberen Zugang zu versuchen und ohne weiter zu zögern, streckte John die Hand nach der Klinke aus und drückte sie herunter.

***

Berührung.
Jemand griff nach ihm.
Drückte ihn nieder.
Immer wieder Hände, die sich nach ihm ausstreckten.

Mit einem Schrei versuchte John zu entkommen. Das plötzliche Gefühl des Fallens kam da wie ein Schock und unvermittelt fand sich Sheppard auf dem Boden der Krankenstation wieder. Seine Beine waren in einem Laken verheddert, das zum Teil noch auf der Liege hing, von der er offensichtlich gestürzt war. Auf der anderen Seite des Bettes stand eine Krankenschwester, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Sie hatte die Hand noch immer in der Höhe, wo sich vor kurzem noch seine Schulter befunden hatte.

„Uh …“, war das Intelligenteste, was er herausbrachte.

Der Ausdruck in den Augen der Schwester wandelte sich von Schreck zu Verständnis und sie setzte ein Lächeln auf, das sicherlich beruhigend wirken sollte. „Alles in Ordnung, Colonel Sheppard? Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe, aber Sie hatten einen Alptraum.“

Als ob er das nicht selbst bemerkt hatte! Das Lächeln bewirkte nur, dass John verlegen wegschaute und hastig versuchte das Laken loszuwerden. Mit einem heftigen Kick befreite er schließlich seine Beine, woraufhin er so schnell wie möglich aufsprang. Doch als wenn es noch nicht peinlich genug gewesen wäre, führte die schnelle Bewegung zu einem Schwindelanfall. Um nicht wieder auf dem Boden zu landen, klammerte er sich an dem Bett fest. Tiefes Durchatmen und mehrmaliges Blinken mit den Augen, klärte schließlich Johns Kopf. Er schaute gerade rechtzeitig auf, um die Krankenschwester mit einem warnenden Blick davon abzuhalten, ihm zu Hilfe zu kommen.

„Ich hole Dr. Beckett“, sagte sie, bevor sie sich umdrehte und flüchtete.

Und dann sank seine sich ohnehin schon auf dem Tiefpunkt befindliche Laune noch mehr. Er musste länger geschlafen haben als geplant, da er nicht nur die Infusion losgeworden war, sondern die Betriebsamkeit im Rest der Krankenstation anzeigte, dass es bereits wieder Tag sein musste. Beckett hatte ihn ausgetrickst! Der Arzt hatte ihn einfach schlafen lassen.

Beim Anblick Carsons, der in diesem Augenblick mit einem Lächeln um die Ecke gebogen kam, stieg ein Grollen in Johns Kehle auf, um das ihn selbst Ronon beneidet hätte. Ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten, fing er an zu reden: „Sie hatten nie vor, mich gehen zu lassen!“, warf er Beckett vor. „Sie wollten mich von Anfang an hier festhalten!“

„Ich wünsche Ihnen auch einen schönen guten Morgen, Colonel Sheppard!“ Carsons Lächeln schien für keine Sekunde zu wackeln und doch konnte John erkennen, dass es die Augen des Arztes nicht ganz erreichte. Vielmehr glaubte er in ihnen Spuren von Erschöpfung und Sorge zu entdecken.

„Sorry, Doc!“ Mit einem Schlag war all seine Wut verschwunden. Beckett war vermutlich die ganze Nacht über in der Nähe geblieben, nur um sicher zu gehen, dass es John gut ging. Und das obwohl er sicherlich genauso lange wie alle anderen auf den Beinen gewesen war.

„Schon gut. Ich weiß ja, wie sehr Sie die Krankenstation hassen. Wie wäre es mit einem Deal? Ich untersuche Sie kurz. In der Zwischenzeit dürfte das Frühstück, nach dem ich geschickt habe, kommen und wenn alles in Ordnung ist, dürfen Sie danach gehen.“

„Okay.“ Was für eine Wahl hatte er schon? Er könnte ewig mit Beckett diskutieren, nur damit dieser dann doch zu seinem Willen kam – oder sich fügen und in spätestens einer halben Stunde hier raus sein.

„Zurück aufs Bett mit Ihnen!“

Wie in einem Akt passiven Widerstandes weigerte sich Sheppard, sich wieder hinzulegen, sondern setzte sich nur auf die Kante des Bettes. Der herausfordernde Blick, den er Beckett dabei zuwarf, und der diesen dazu aufzufordern schien zu widersprechen, wurde jedoch vollkommen ignoriert.

„Ich habe gehört, Sie haben die Nacht ganz gut überstanden“, sagte Carson stattdessen. „Zumindest bis Sie der armen Lucy heute morgen einen gewaltigen Schrecken eingejagt haben.“

„Hm-mh.“

„Wollen Sie darüber reden, worum es in ihrem Alptraum ging?“

„Nein!“ Johns Tonfall war endgültig und Carson schien sich entschieden zu haben, die Sache erstmal auf sich beruhen zu lassen. Stattdessen nahm er sein Stethoskop in die eine Hand und griff mit der anderen nach Johns Shirt, um es anzuheben.

Oder zumindest versuchte er es. Als sich Becketts Hand Sheppard näherte, konnte John nicht verhindern, dass er unwillkürlich zurückwich. Als der Arzt die Hand etwas zurückzog, entspannte er sich wieder, doch als er wieder näher kam, zuckte John erneut zurück.

Von da an ging es nur noch bergab.

Die Untersuchung war für beide eine Tortur. Während Beckett versuchte sich so behutsam wie möglich zu bewegen und John über jeden Schritt der Untersuchung vorher zu unterrichten, ließ es sich einfach nicht vermeiden, dass er ihn ab und an berühren musste. Gleichzeitig versuchte Sheppard seine Reaktionen in den Griff zu bekommen, konnte ein Zurückzucken aber nie ganz unterdrücken. Besonders schlimm war es im Brustbereich, wo der Wraith sich von ihm genährt hatte. Da konnte er nicht auch nur die leichteste Berührung ertragen. John wünschte sich schließlich fast die Müdigkeit des vergangenen Abends zurück. Zumindest war er da so weggetreten gewesen, dass ihm die Untersuchung kaum Probleme bereitet hatte.

Beide waren erschöpft und erleichtert, als Beckett mit seiner Untersuchung endlich fertig war und ihn erst einmal allein ließ. Wie versprochen war in der Zwischenzeit ein Tablett mit Frühstück angekommen. Doch ein einziger Blick auf die mit Marmelade beschmierten Toastscheiben, zeigte John, dass sein Appetit noch nicht zurückgekehrt war. Nur um einer weiteren Diskussion mit Beckett aus dem Weg zu gehen – und weil ihm bewusst war, dass er Nahrung brauchte, fing er an, lustlos auf einer Ecke herumzukauen.

Da war Elizabeth, die plötzlich lächelnd am Fußende seines Bettes stand, eine willkommene Ablenkung. „Elizabeth“, grüßte er ebenfalls mit einem Lächeln, während sie sich in den bereitstehenden Stuhl setzte.

„Guten Morgen, John! Wie geht es Ihnen?“

„Gut. Nicht mehr lange und Carson entlässt mich aus seinen Fängen. Dann kann ich meinen Pflichten wieder nachkommen.“

„Colonel.“ Die Verwendung seines Ranges ließ John endgültig aufgeben, vorzutäuschen, dass er essen würde. Er legte das Stück Toast in seiner Hand zurück auf den Teller und wandte seine volle Aufmerksamkeit Weir zu.

„Dr. Beckett …“ Uh, Dr. Beckett und nicht Carson. Jetzt war sich John absolut sicher, dass ihm das, was als nächstes kam, nicht gefallen würde. „… und ich haben beschlossen, dass Ihnen ein paar Tage Ruhe gut tun würden.“

„Wie bitte?“

„Entspannen Sie sich, machen Sie was Ihnen gefällt oder einfach mal gar nichts.“

John konnte nicht glauben, was er da hörte. „Elizabeth“, flehte er.

„Sie brauchen Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten. Atlantis braucht einen militärischen Kommandanten, der hundertprozentig auf dem Damm ist. Wir können es uns einfach nicht erlauben, dass Sie vielleicht zu zeitig den Dienst wieder antreten.“ Zumindest hatte sie den Anstand, ihm bei diesen Worten in die Augen zu sehen. Und auch wenn er bereits erkennen konnte, dass ihr Entschluss feststand, konnte John nicht anders, als noch einmal zu versuchen, sie umzustimmen.

„Elizabeth, ich brauche etwas zu tun, um mich abzulenken. Wenn ich nur herumsitze, drehe ich durch.“ Normalerweise würde er in so einer Situation versuchen, die Expeditionsleiterin mit einem seiner treuherzigen Grinsen zu erweichen. Diesmal war er jedoch viel zu geschockt dazu.

Fassungslos sah er zu, wie Weir aufstand. „Der Entschluss steht fest. Wieviele Tage genau, entscheiden wir, wenn wir sehen, wie es so läuft …“

„Das können Sie nicht machen“, flüsterte John entsetzt.

„Oder wären Sie bereit, mit Dr. Heightmeyer zu reden?“

Langsam baute sich Wut in ihm auf. „Das können Sie nicht machen!“, sagte er schon bestimmter.

Doch Weir ignorierte seine Worte. Stattdessen verabschiedete sie sich mit einem „Machen Sie das Beste daraus, genießen Sie die freie Zeit!“ und wandte sich zum Gehen. „Das können Sie nicht machen!“, rief er ihr durch die Krankenstation hinterher.

„Haben Sie davon gewusst?“, fragte John den Arzt, der plötzlich wieder neben dem Bett aufgetaucht war.

„Aye. Sie müssen verstehen, dass das nur zu Ihrem Besten ist.“

„Zu meinem Besten? Ich kenne mich und weiß genau, dass das bestimmt nicht zu meinem Besten ist! Das ist nicht fair!“

„Das Leben ist nun mal nicht fair. Beenden Sie ihr Frühstück und dann können Sie gehen.“

„Mir ist der Appetit vergangen“, erwiderte Sheppard trotzig.

Beckett sah für einen Moment so aus, als ob er darauf bestehen würde, entschied sich dann aber erneut dagegen, auf seinem Punkt zu beharren. „Okay, essen sie dafür vor dem Mittag noch irgendeine Kleinigkeit. Und jetzt verschwinden Sie von hier, bevor ich meine Meinung ändere. Ich möchte Sie allerdings in zwei Tagen zu einer Nachuntersuchung sehen.“

Das ließ sich John nicht zweimal sagen. Schnell war er in seine unter dem Bett stehenden Schuhe geschlüpft und auf dem Weg zu seinem Quartier. Auch wenn er versuchte den kürzesten Weg zu nehmen, konnte er es nicht vermeiden, unterwegs dem einen oder anderen Menschen zu begegnen. Selbst Leute, mit denen er bisher nichts zu tun gehabt hatte, blieben stehen, um ihn zu grüßen und ihm zu versichern, wie froh sie waren, dass er heil wieder zurück war. In ihren Augen konnte er von unverhohlener Neugier bis zu echter Anteilnahme alles lesen.

Als sich die Tür zu seiner Unterkunft endlich hinter ihm schloss, ließ er sich für einen Moment erleichtert dagegen sinken. Doch schon bald wies hin ein muffliger Geruch darauf hin, dass er noch immer die gleiche Uniform wie schon seit Tagen anhatte. Mit hektischen Bewegungen riss er die Kleidungsstücke von seinem Leib und ließ sie einfach auf den Boden fallen. Dann ging er ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Für eine lange Zeit genoss er einfach nur das Gefühl des heißen Wassers auf seiner Haut.

weiter: Kapitel 3
Kapitel 3 by Lorien
Kapitel 3

„… und damit komme ich zum Ende meines Vortrages.“ Rodney schaute sein Publikum mit vorgestrecktem Kinn herausfordernd an. „Fragen?“ Gleichzeitig schrie seine ganze Haltung ‚wagt es ja nicht!’.

Er konnte es nicht erwarten, diesem dunklen und stickigen Raum zu entkommen. Sheppard saß wahrscheinlich irgendwo draußen in der Sonne und ließ es sich gut gehen, während er hier drinnen festsaß und sich völlig grundlos Sorgen machte. Ungebeten schlich sich ein Bild von Sheppard in seinen Kopf, wie dieser blutüberströmt und mit gebrochenen Knochen im Straßengraben lag, weil er zu sehr darauf konzentriert gewesen war, von Rodney wegzukommen, anstatt auf den Verkehr zu achten. Nur weil sie hier auf der Erde waren, hieß das noch lange nicht, dass der Colonel nicht genauso viel Ärger anziehen konnte, wie in der Pegasus Galaxie.

Oh mein Gott, oder was wäre wenn irgendeine dem SGC feindlich gesonnene Gruppe erfahren hatte, dass sie auf der Erde waren und Sheppard entführt hatte!

Nur mühsam konnte Rodney seine sich überschlagenden Gedanken wieder unter Kontrolle bringen. Selbst nach fast drei Jahren überwältigte ihn das Konzept ihrer Freundschaft hin und wieder immer noch. Wenn es um den Teil ging, der sich um andere Sorgen machen beinhaltete, reagierte er aufgrund mangelnder Erfahrung nicht selten etwas extrem. Aber he, immerhin sollte anerkannt werden, dass er sich Mühe gab! Besser zu viel als zu wenig! Und der Stress, den solch emotionale Bindungen verursachten, nahm Rodney nicht für jeden auf sich. Oh nein! Sheppard sollte das zu würdigen wissen und wenn er tatsächlich faul in der Sonne lag, konnte er als Strafe sein Essen gefälligst alleine bezahlen! Genau!

Gerade als Rodney zu der Überzeugung kam, dass alle seine Warnung verstanden hatten und es niemand wagen würde, ihn durch dämliche Fragen aufzuhalten, meldete sich doch tatsächlich jemand aus der hintersten Reihe zu Wort. „Dr. McKay, könnten Sie bitte noch einmal zu Ihrer dritten Folie zurückkehren. Ich denke, dass die da gezeigten Gleichungen nicht wirklich viel Sinn ergeben.“

Dritte Folie? Die dritte Folie?! Das konnte doch nicht wahr sein, das war doch mindestens zwei Stunden her! Wer konnte sich nach der Zeit noch an eine dritte Folie erinnern? Rodney wurde das Gefühl nicht los, dass ihn der Wissenschaftler auf den Arm nehmen wollte. Wenn er selbst einen Fehler so zeitig in einem Vortrag entdeckt hätte, hätte er sich mit Freuden schon längst zu Wort gemeldet. Ein Irrtum an so einer Stelle würde doch bedeuten, dass alles Nachfolgende ebenfalls nicht richtig war. Kein echter Wissenschaftler konnte während eines vor Fehler strotzenden Vortrages still dasitzen.

Noch bevor McKay seine Irritation mit einer bissigen Bemerkung zum Ausdruck bringen konnte, öffnete sich plötzlich die Tür. Für einen Augenblick hoffte er, Sheppard wäre zurückgekehrt, doch schon bald wurden aus den gegen die helle Öffnung nur verschwommen wahrnehmbaren Schatten zwei Gestalten. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und mit Skimützen über dem Kopf begannen sie sofort mit Pistolen herumzufuchteln.

„Hände hoch! Und keiner rührt sich!“

„Schön sitzen bleiben, dann wird keinem etwas geschehen.“

Rodney wusste, dass er eigentlich Angst empfinden sollte. Doch irgendetwas irritierte ihn an den beiden. Sie wirkten weniger wie erfahrene Terroristen als wie Amateure, die ihre Vorgehensweise aus drittklassigen Gangsterfilmen abgeschaut hatten. Auch wenn die Waffen professionell aussahen und die aufgeschraubten Schalldämpfer nahe legten, dass sie keine unnötige Aufmerksamkeit von außen auf die Geschehnisse im Saal lenken wollten. Selbst ihre Sprüche schienen einem billigen Drehbuch entsprungen zu sein.

„Du da! Steh nicht so dumm rum, ich sagte, Hände nach oben!“

‚Tom und Jerry’, wie ihm eine verdächtig nach Sheppard klingende Stimme einflüsterte, waren an den Sitzreihen vorbeigegangen und gesellten sich zu McKay auf das Podium. Der kleinere der beiden, ‚Jerry’, ließ das Publikum nicht aus den Augen und richtete seine mit beiden Händen unsicher umklammerte Pistole auf die sitzenden Wissenschaftler. ‚Tom’ kam dagegen direkt auf Rodney zu. Er hielt seine Waffe lässig in der rechten Hand und richtete sie nun auf McKay.

„Ich sagte, Hände hoch!“ Vermutlich sollte die Stimme drohend klingen, doch verriet sie Rodney nur, dass sein Gegenüber noch ziemlich jung sein musste.

Die ganze Situation wirkte irgendwie surreal. „Das ist ein Witz, oder?“, fragte er kopfschüttelnd. „Das ist irgend so ein komisches Aufnahmeritual, bei dem ihr beweisen müsst, was für tolle Kerle ihr seid.“

„Kein Witz, Alter! Das hier ist todernst.“

„Dass ich nicht lache! Eure Eltern sollten euch eine Tracht Prügel verpassen und dann würde ich vorschlagen, dass ihr auf eure Zimmer zurückkehrt und euch weiter mit eurem Plastikspielzeug beschäftigt!“ So langsam kam Rodney in Fahrt.

Jetzt baute sich ‚Tom’ direkt vor McKay auf. „Mister! Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, bin ich hier derjenige mit der Pistole in der Hand.“ Dabei hielt er ihm die Waffe direkt unter die Nase. „Ein Zucken und Sie sind Geschichte“, zischte er drohend.

„Bist du dir sicher, dass das Ding überhaupt entsichert ist?“

Mit einem wütenden Knurren trat ‚Tom’ einen Schritt zurück und drückte ab.

Plopp!

Eine Sekunde lang schien die Zeit stillzustehen. Rodney fürchtete, dass ihn sein loses Mundwerk diesmal das Leben kosten würde. Doch anstelle der Schwärze eines plötzlichen Todes oder der Schmerzen einer verheerenden Schusswunde, spürte er nur ein Zupfen an seinem linken Ohr, bevor sich die Kugel mit einem dumpfen Geräusch in die hinter ihm liegende Wand bohrte. Wie in Trance griff er nach seinem Ohr und traf auf Nässe. Als er die Hand wieder herunternahm, starrte er fassungslos auf seine mit Blut bedeckten Finger.

„Nachricht angekommen? Und jetzt machen Sie jetzt gefälligst, was man Ihnen sagt! Hände hoch!“

„Du hast mein Ohr getroffen … Ich hab ein verdammtes Loch in meinem Ohr …“ Rodney konnte immer noch nicht glauben, dass er noch am Leben war. Erst als sein Gehirn die von der Wunde ausgehenden Schmerzen registrierte, wurde es real.

„Es gibt gleich noch mehr Löcher!“ ‚Tom’ schien kurz davor erneut die Geduld zu verlieren. „Hände hoch!“

„Übertreib es nicht“, mischte sich ‚Jerry’ ein. „Wir sollen ihn vorerst am Leben lassen.“ Dann wandte er sich an Rodney. „Und Sie, Mister, sollten lieber aufhören meinen Partner zu reizen. Ein wenig Respekt würde Ihnen gut tun.“

„Respekt? Vor zwei dahergelaufenen Möchtegern-Terroristen? Nicht nach dem, was ich in den letzten Jahren gesehen und überlebt habe.“ Ich habe in einem Kokon gesteckt, während sich ein Wraith über mich gebeugt hat und mich geweigert, ihm meine Angst zu zeigen! Nicht das Rodney, dies laut aussprechen konnte – oder wollte, denn schon die Erinnerung daran hinterließ einen trockenen Mund bei ihm.

„Was denn“, machte sich ‚Tom’ lustig. „Haben Sie etwa aus Versehen Ihr Labor in die Luft gesprengt?“

„DAS ist mir nicht mehr passiert, seit ich in der 6. Klasse war! Das war kurz bevor ich mir beigebracht habe, wie man Atombomben baut. Obwohl … wenn man es genau nimmt, waren da ja noch die drei Viertel eines Sonnensystems letztes Jahr.“

„So richtig wie MacGyver?“, fragte ‚Jerry’. „Der Typ, der aus Nichts auch immer die tollsten Sachen gebaut hat? Cool.“

„Also …“

„Das reicht jetzt! Wir sind hier nicht zum Plaudern!“ Rodney würde sich vor ‚Tom’ wirklich in Acht nehmen müssen. Der Typ war der deutlich aggressivere der beiden und schien auch noch echte Probleme mit seinem Temperament zu haben. Wenigstens hatte er aufgehört, seine Waffe direkt in das Gesicht des Wissenschaftlers zu halten.

Trotzdem konnte er sich die nächste Frage nicht verkneifen. „Und weswegen genau seid Ihr hier?“

„Na, weil uns jemand dafür bezahlt hat“, erklärte ‚Jerry’ hilfsbereit. „Wir sollten heute um diese Zeit herkommen und die Leute in dem Raum als Geiseln nehmen, wo ein gewisser Dr. Rodney McKay – das sind Sie doch, oder? – eine …“

„Halt die Klappe, Kyle!“

„He, ich dachte, wir wollten unsere Namen nicht verwenden!“

Rodney beobachtete, wie die beiden in eine Diskussion ausbrachen. Es war schlimmer als befürchtet. ‚Tom’ und ‚Jerry’ waren nicht nur blutige Anfänger, sondern hatten noch nicht einmal den leisesten Hauch eines Planes. Es konnte doch nicht sein, dass er alles überlebt hatte, was die Pegasus Galaxie vor ihre Füße geworfen hatte, nur um auf der Erde bei einem dilettantisch ausgeführten Überfall draufzugehen. Das einzig Positive an der Situation war, das Sheppard – hoffentlich - in Sicherheit war.

Ein Räuspern aus dem Publikum riss die beiden Bewaffneten aus ihrem Gespräch. „Können wir die Arme jetzt vielleicht wieder herunternehmen? Das Ganze wird langsam unbequem.“

„Okay, aber eine falsche Bewegung und das war’s!“

„Ich hasse es, mich zu wiederholen, doch was …“ Als sich die obere Tür plötzlich öffnete, blieb Rodney regelrecht der Mund offen stehen. Die Gestalt, die da unbekümmert in den Raum trat war eindeutig Sheppard. Aber warum hatte er eine Brille auf? Und was zum Teufel hatte er mit seinen Haaren gemacht? Sollte das etwa ein Mittelscheitel sein? McKay hatte es bis heute nie für möglich gehalten, dass der Tag kommen würde, an dem er Sheppards Frisurgeschmack für noch verrückter halten würde, als bisher. Aber man konnte halt immer noch etwas dazulernen.

***

Rodney war nur noch wenige Meter von Sheppards Quartier entfernt. Nachdem das Team in die Krankenstation gekommen war, nur um zu hören, dass ihr Anführer bereits entlassen worden war, hatten sie kurz über ihr weiteres Vorgehen beraten und beschlossen, Schichten einzuteilen, so dass Sheppard so wenig wie möglich allein sein würde. In einem spontanen Anfall von Hilfsbereitschaft hatte sich McKay dazu bereit erklärt, als erster die Aufgabe zu übernehmen, Sheppard zu beaufsichtigen … äh … zu beschäftigen.

Voller Pläne klopfte er an die Tür. Als sich nichts rührte, versuchte er es noch einmal. Gerade als sich Rodney dazu entschieden hatte, den Öffnungsmechanismus zu überbrücken, ging die Tür endlich auf und er trat ein.

Sheppard stand, nur mit einer Trainingshose bekleidet, mitten im Raum und trocknete sich mit einem Handtuch die Haare. „Was wollen Sie, McKay?“

„Uh …“ Da war wohl jemand mit dem falschen Bein aufgestanden. „Schauen wie es Ihnen geht, Colonel.“

„Gut! Mir geht es gut! Und das können Sie ruhig allen sagen, die fragen! Ich fühle mich großartig!“ Das Handtuch landete dank einer heftigen Bewegung in der Ecke, wo es sich zu weiteren achtlos fallengelassenen Kleidungsstücken gesellte. Sheppard öffnete eine Schublade und entnahm eines der schwarzen T-Shirts, von denen er einen unerschöpflichen Vorrat zu haben schien und zog es sich über den Kopf.

Rodney bekam erst mit, dass er auf Sheppards Oberkörper gestarrt hatte, als dieser ihn komisch anschaute. „Es ist alles weg“, sagte Sheppard leise. „Es sind keine Spuren zurückgeblieben – weder von dem Alterungsprozess, noch die Nährungsmarke. Alles ist wie neu.“

Während sich der Pilot auf das Bett fallen ließ und Socken und seine Laufschuhe anzog, suchte McKay krampfhaft nach einem Thema, mit dem er das eigenartige Schweigen überbrücken konnte. Er war nicht so unsensibel, dass er nicht erkennen konnte, dass seine Anwesenheit unerwünscht war, aber er hatte versprochen auf Sheppard zu achten. Ob es diesem nun gefiel oder nicht. „Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht mit mir zusammen Frühstück essen wollen“, brachte er schließlich hervor.

„Kein Hunger!“

„Aber …“

„Ich sagte, ich habe keinen Hunger, McKay!“

„Schon gut, das ist kein Grund mich so anzuschreien. Sie brauchen ja nichts zu essen, obwohl Sie durchaus noch das ein oder andere Pfund auf ihren Rippen vertragen könnten, aber vielleicht …“

„Nein!“ Sheppard schaute nicht einmal auf, sondern schnürte stur weiter seine Schuhe.

„He! Sie könnten mich ja wenigstens ausreden lassen. Ich wollte ja nur fragen, ob Sie mir Gesellschaft leisten wollen.“

„Nein.“

„Okay, okay. Allerdings könnte ich ihr überzüchtetes Gen im Labor wirklich gut gebrauchen. Erst gestern hat eines der Teams eine ganze Kiste voller neuer Antikergeräte angebracht, von denen keiner auch nur die leiseste Ahnung hat, was sie machen.“

„Rodney …“ Obwohl Sheppard mit seinen Schuhen mittlerweile fertig war, schaute er McKay immer noch nicht direkt an. Vielmehr starrte er auf einen Punkt an der Wand. Mit resigniertem Tonfall fuhr er fort: „Sie können Elizabeth und Carson ausrichten, dass ich keinen Aufpasser brauche. Gut, sie wollen mir verbieten meinen Pflichten nachzugehen, aber deswegen brauche ich noch lange niemanden, der mir den ganzen Tag hinterher läuft.“ Mit diesen Worten stand er auf und bewegte sich zur Tür.

„Sheppard!“ Rodney musste sich beeilen hinterher zu kommen. „Warten Sie! Was haben Sie vor?“

„Ich gehen laufen.“

„Hat Carson das abgesegnet?“

Sheppard blieb so plötzlich stehen, dass Rodney beinahe in ihn hineingerannt wäre. Mit mühsam unterdrückter Wut drehte er sich um. „Es. Geht. Mir. Gut. Ich brauche niemanden, der mir sagt, was ich tun und lassen soll. Ich darf nicht arbeiten. Prima! Aber ansonsten kann ich machen, was ich will.“

Ein paar Minuten später stand Rodney immer noch im Gang und schaute in die Richtung, in die Sheppard davongejoggt war. Als er sich schließlich aus seiner Erstarrung löste, griff er nach seinem Komm-Gerät. „Ronon, McKay hier. Sheppard ist Laufen gegangen. … Was? … Woher soll ich wissen, ob er seine bevorzugte Strecke genommen hat? … Jaja, schon gut.“

Den ganzen Tag über kam Rodney nicht wirklich voran. Während er in seinem Labor saß und eigentlich an seinen zahlreichen Projekten hätte weiterarbeiten müssen, wanderten seine Gedanken immer wieder zu Sheppard. Auch wenn sein Verstand auf einer rationalen Ebene wusste, dass dieser in Atlantis mehr oder weniger sicher war, juckte es in Rodneys Fingern, alle fünf Minuten nach dem Komm-Gerät zu greifen und sich zu vergewissern, dass es Sheppard gut ging. Gleichzeitig schmerzte es ihn mehr, als er bereit war zuzugeben, dass dieser lieber laufen gegangen war, anstatt Zeit mit ihm zu verbringen. McKay konnte dem Konzept sich körperlich zu erschöpfen, wenn man emotionale Probleme hatte, einfach nichts abgewinnen. Wenn er sich ablenken musste, suchte er sich viel lieber ein kniffliges Problem und versuchte dies zu lösen. Auf die Art bekam er seinen Kopf am einfachsten frei. Nur heute schien nichts zu funktionieren.

Seine Stimmung war bereits vor dem Mittagessen auf dem Tiefpunkt, zu dem er so spät erschien, dass er nichts mehr von dem als Nachtisch gereichten Schokoladenkuchen abbekam. War er vorher schon gereizt, war er danach einfach nur noch unausstehlich. Innerhalb kürzester Zeit hatte er alle seine Assistenten mehrmals angeschrieen, bis diese schließlich das Weite suchten. Selbst Zelenka, der sonst eine höhere Toleranzgrenze hatte, wenn es um Rodneys Launen ging, war so klug, sich nicht in dessen Nähe sehen zu lassen.

Als er bei der Gleichung, an der er gerade arbeitete, bereits zum dritten Mal den selben Fehler machte, war er kurz davor für heute aufzugeben. Frustriert griff er nach seiner Kaffeetasse, nur um den mittlerweile kaum noch genießbaren, kalten Kaffee fast wieder auszuspucken. Lauthals fluchend gab er einige der kreativeren Sprüche wieder, die er während seiner Zeit in Russland gelernt hatte. Mit müden Schritten ging er zur Kaffeemaschine, um sich eine neue Tasse einzugießen.

Auf dem Rückweg hätte er die Tasse beinahe fallen gelassen, als er plötzlich Sheppard entdeckte, der in einer lässigen Haltung an seinem Arbeitsplatz lehnte. Er hatte ihn nicht kommen gehört. Unauffällig musterte Rodney Sheppard. Er sah besser aus, entspannter. Nur seine Augen zeigten an, dass das kein normaler Tag für ihn gewesen war. Es fehlte ihnen das sonst so typische Funkeln, die unbändige Lebensfreude, die Sheppard so oft ausstrahlte. Auch die Kollektion von blauen Flecken und leichten Abschürfungen war im Vergleich zum Morgen neu. Rodney würde ein Monatsgehalt darauf wetten, dass sie entweder von einer Übungsstunde mit Teyla und/oder Ronon stammten.

„Was wollen Sie, Colonel?“

„Ich habe gehört, hier würde eine Kiste Spielzeug herumstehen“, sagte Sheppard in einem Versuch die Stimmung aufzulockern. Das Lächeln in seinem Gesicht erreichte jedoch nicht ganz seine Augen.

„Antikergeräte sind hochwertige Technologie und kein Spielzeug!“, beschwerte sich Rodney verärgert. „Wenn Sie ihre Arbeit hier nicht ernst nehmen können, kann ich gern auf ihre Hilfe verzichten!“

„Sie müssen zugeben, McKay, dass die Kugel mit den gespeicherten Hologrammen letzte Woche ein wirklich nettes Spielzeug gewesen ist.“

„Vielleicht“, räumte er mürrisch ein. „Selbst Wesen, die so wenig Humor zu haben scheinen wie die Antiker, müssen sich ab und zu entspannen. Und jetzt, husch, husch! Ich muss meine äußerst wichtige Arbeit fortsetzen.“ Seine linke Hand versuchte Sheppard aus dem Labor zu wedeln.

Doch dieser rührte sich nicht vom Fleck. „Meinen Sie diese Gleichungen hier? Da kann sogar ich die Fehler schon aus zehn Meter Entfernung entdecken.“ Noch während Rodney an einer intelligenten Erwiderung arbeitete, bewegte sich Sheppard endlich zur Seite. „Aber vielleicht kann Ihnen das ja dabei helfen.“

„Wo haben Sie den denn noch her?“ Mit wässrigem Mund war Rodney in Sekundenschnelle an seinem Schreibtisch und riss den Teller mit dem Stück Schokoladenkuchen an sich, den Sheppard mitgebracht hatte. Er zögerte nicht einen Augenblick, bevor er mit einem fast ekstatischen Stöhnen in den Kuchen biss.

„Der isch wirklisch gud“, murmelte er mit vollem Mund und einem seligen Lächeln. Es dauerte keine drei Minuten bis Rodney den Teller restlos geleert hatte. Als er aus seinem Rausch erwachte, fiel sein Blick auf Sheppard, der ihn amüsiert beobachtete.

„Ähm, hätten Sie etwas abhaben wollen?“, fragte er verunsichert.

„Schon gut, ich habe bereits gegessen.“

„Perfekt! Dann können wir ja jetzt anfangen mit den … äh … Spielzeugen.“ Dies war Rodneys Weg, sich bei Sheppard für die Unfreundlichkeit der letzten Minuten zu entschuldigen – und sein Dank für den Schokoladenkuchen.

Glücklicherweise hatte Sheppard bereits in den ersten Wochen der Expedition gelernt, bei Rodney zwischen den Zeilen zu lesen, so dass er den Subtext ohne Probleme verstand. „Spielen wir“, meinte er grinsend.

Und damit schien der Tag doch noch ein produktives Ende zu haben. Für die nächsten Stunden arbeiteten die zwei in vertrautem Rhythmus zusammen. Während McKay Messungen vornahm und sich zahlreiche Notizen machte, schaltete Sheppard die unterschiedlichsten Geräte ein und aus. Obwohl nichts wirklich Brauchbares dabei war – Wer bitte brauchte einen Blumentopf mit integriertem Datenspeicher? Wenn es sich wenigstens um einen intelligenten Blumentopf handeln würde, der einem jedes Mal Bescheid sagt, wenn die Pflanzen wieder Wasser brauchen … aber ein Datenspeicher? -, kamen sie gut voran.

Die Zeit ging so schnell vorbei, dass keiner der beiden mitbekam, wie spät es eigentlich schon war. Rodney hielt erst inne, als er bemerkte, dass Sheppard vor Erschöpfung kaum noch die Augen aufhalten konnte. Doch Colonel Stoisch behauptete natürlich weiterhin, es würde ihm gut gehen, während er gleichzeitig vor lauter Gähnen den Mund nicht mehr zu bekam. Für einen Moment glaubte McKay bei der Erwähnung von Schlaf so etwas wie Panik in Sheppards Zügen erkennen zu können. Der Augenblick war jedoch so schnell vorbei, dass er sich fast sicher war, es sich nur eingebildet zu haben.

Als Rodney es schließlich auf die Mitleidstour versuchte und so tat, als ob er jeden Moment vor Erschöpfung zusammenbrechen würde, sah Sheppard endlich ein, dass es Zeit war Schluss zu machen.

******************************


Nach außen hin hatte Sheppard eine scheinbar tief in Gedanken versunkene Haltung angenommen, als er mit leicht schlurfenden Schritten den Hörsaal betrat. In Wirklichkeit studierte er die vor ihm liegende Situation jedoch aufs Genaueste. Innerhalb von nur wenigen Sekunden hatte er das in ängstlicher Spannung dasitzende Publikum und die beiden mit Rodney auf dem Podium stehenden bewaffneten Personen registriert.

Doch genauso schnell entdeckte er auch das Blut am Kopf des Wissenschaftlers. Einzig die Tatsache, dass Rodney aufrecht dastand und sich nicht vor Schmerzen auf dem Boden wälzte, hielt John davon ab, etwas Dummes zu tun. Er durfte nicht riskieren, seine Täuschung zu zeitig auffliegen zu lassen.

Bei seinem Eintreten hatte sich alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Während die beiden schwarz gekleideten Männer für einen Moment überrascht und vielleicht auch ein klein wenig mit der Situation überfordert wirkten, konnte man Rodneys Blick einfach nur als entgeistert bezeichnen. Ein paar Mal öffnete er seinen Mund, doch schloss er ihn immer wieder, ohne auch nur ein einziges Wort hervorzubringen.

In der Zwischenzeit war Sheppard einige Schritte in den Raum hinein getreten, so als ob er sich auf dem Weg zu seinem Platz befinden würde. Er war etwa zwei, drei Meter weit gekommen, als er seinen Kopf hob und vortäuschte, die beiden Gestalten auf der Bühne erst jetzt zu entdecken.

„Oh …“, stieß er scheinbar perplex hervor. John erstarrte an der Stelle, an der er sich gerade befand und hob die Hände in einer Geste, die möglichst unterwürfig wirken sollte.

„Wo kommst Du denn auf einmal her?“, fragte der größere der beiden Terroristen, während er seine Waffe auf John richtete.

„Woher wohl! Von der Toilette!“, kam Rodney Sheppard unvermittelt zu Hilfe. „Es gibt Leute, die schaffen es nicht einmal für zwei Stunden durchzuhalten, um sich einen wichtigen Vortrag anzuhören.“

War Rodney etwa sauer, weil er den Hörsaal so fluchtartig verlassen hatte? Für einen Moment war sich Sheppard nicht sicher, wie er dessen Sarkasmus deuten sollte. Was McKay konnte, konnte er jedoch schon lange. „Das ist der viele Kaffee“, versuchte er sich in einem entschuldigenden Tonfall. „Der viele Kaffee, ohne den ich morgens einfach nicht funktionieren kann.“

Dem vernichtenden Blick nach zu urteilen, den Rodney ihm zuwarf, hatte der Wissenschaftler die Anspielung genau verstanden. Doch noch bevor er sich mit einer spitzen Bemerkung revanchieren konnte, meldete sich der Bewaffnete wieder zu Wort. „Genug! Du da, komm hier runter!“

„Das ist nicht nötig!“ Diesmal klang kaum unterdrückte Panik in Rodneys Stimme mit. „Er kann sich doch einfach wieder auf seinen Platz im Publikum setzen. Ihr braucht ihn doch nicht!“

„Schon gut, Dr. McKay. Wenn der Mann mit der Pistole sagt, ich soll runterkommen, dann werde ich genau das machen.“

„Hören Sie das, Mister? So hat sich eine Geisel gefälligst zu benehmen!“, zischte der Mann in Rodneys Richtung, bevor er sich wieder an John wandte. „Und jetzt komm runter.“

Sheppard kam der Aufforderung mit sorgsam bemessenen Bewegungen nach. Während er seine Hände weiter in die Höhe hielt, hatte er seinen Oberkörper kaum merklich gedreht, so dass sein Rücken etwas zur Wand zeigte. Seine einzige Hoffnung war, dass keiner der im Publikum sitzenden Wissenschaftler auf die in seinem Hosenbund steckenden Holzstücke reagieren würde. Mit ein wenig Glück würde sie in dem gedämpften Licht und aufgrund der leicht abgewandten Haltung kaum einer wirklich wahrnehmen. Und sollte sie doch jemand entdecken, würde derjenige hoffentlich seinen vorhandenen Intellekt darauf verwenden, den Mund zu halten. Langsam näherte er sich dem Podium – und damit Rodney - Schritt für Schritt.

„Der sieht für einen Wissenschaftler aber ziemlich durchtrainiert aus“, meldete sich plötzlich der andere Bewaffnete zu Wort. Wie um besser sehen zu können, stellte er sich neben seinen Partner.

„Ach was, wahrscheinlich gibt es selbst unter solchen Strebern den ein oder anderen, der schon mal etwas von Sport gehört hat. Schau dir seine Haare an! Niemand der auch nur halbwegs cool ist, versucht mit solchen Haaren einen Mittelscheitel.“ Beide fingen an zu kichern.

Es war Sheppard egal, dass man sich über ihn lustig machte. Immerhin war die Reaktion doch nur ein weiteres Zeichen, dass er es mit Amateuren zu tun hatte. Die beiden machten es ihm wirklich leicht. Sie konzentrierten sich nicht wirklich auf ihre Aufgabe, standen viel zu dicht beieinander und beide schienen Rodney, der einige Schritte entfernt stand, total vergessen zu haben. Mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln versuchte er jeder unüberlegten Aktion von Seiten McKays zuvorzukommen. Dann richtete John seine Aufmerksamkeit wieder auf die beiden Bewaffneten. In Gedanken überschlug er die verbleibende Entfernung und wie viel Platz er für seinen Plan brauchte.

Er war nur noch ein paar Schritte entfernt, als er schließlich in Aktion trat. Für alle anderen sah es so aus, als ob er beim Betreten des leicht erhöht liegenden Podiums plötzlich ins Stolpern geriet. Tatsächlich aber nutzte er die taumelnde Bewegung, um in die Nähe seiner Gegner zu gelangen. Gleichzeitig brachte er seine Arme über die Schultern und packte die beiden Holzstöcke mit einem festen Griff. In einem geschmeidigen Bogen ließ er den linken Stock auf den ausgestreckten Waffenarm des größeren und näher stehenden Mannes prallen. Während die Waffe noch nach unten gedrückt wurde und der sich lösende Schuss harmlos in den Boden fuhr, brachte John bereits den anderen Stock dank eines weiteren Bogens in direkten Kontakt mit der linken Seite des Mannes. Als dieser unwillkürlich seinen Oberkörper beugte, wie um sich um den Schmerz herum zusammenzurollen, brauchte Sheppard nur noch auf dessen Kopf zu schlagen, damit sein erster Gegner bewusstlos zusammenbrach.

Alles ging so schnell, dass der zweite Mann seine Waffe noch nicht einmal auf Sheppard gerichtet hatte, als dieser auch schon auf ihn losging. Mit einer eleganten Kombination, die Teyla stolz gemacht hätte, schaltete John diesen Gegner ebenfalls innerhalb kürzester Zeit aus. Beide Stöcke in einer Hand beugte er sich nieder, um die zu Boden gefallenen Pistolen aufzuheben, bevor er sich schließlich zu Rodney umdrehte.

In dem Auditorium herrschte atemlose Stille und so hörten die Wissenschaftler jedes Wort, dass Sheppard zu McKay sagte. „Ich brauche ein paar Kabel, McKay, damit wir die beiden fesseln können.“ Doch Rodney starrte ihn nur mit offenem Mund fassungslos an. So als ob er John noch nie in Aktion gesehen hätte.

„McKay!“

„Uh … Ja! Kabel! Kommen sofort!“

Während Rodney etliche der zwischen den technischen Geräten verlaufenden Kabel blindlings und ohne Rücksicht auf Verluste herauszog, sicherte Sheppard die beiden Schusswaffen und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Dann griff er nach den Kabeln, die Rodney brachte und machte sich an die Aufgabe, die beiden Männer zu fesseln. Eine kurze Überprüfung zeigte Sheppard, dass beide noch ein Weilchen bewusstlos sein würden, auch wenn sie nicht wirklich schwer verletzt waren. Ein paar Platzwunden, vermutlich der ein oder andere gebrochene Knochen, doch nichts, was eine unmittelbare Versorgung verlangte. Er richtete sich erst wieder auf, als er die Fesseln zu seiner Zufriedenheit angelegt hatte.

„Alles in Ordnung, McKay?“, wandte er sich dem Wissenschaftler zu. „Soll ich mir das mal anschauen?“

„Was? … Oh, geht schon … denke ich.“ Automatisch griff er nach seinem Ohr. Doch Sheppard war bereits an ihn herangetreten und schlug die Hand weg. Für einen Moment studierte er die Wunde.

„Die Blutung hat bereits aufgehört, aber …“, begann er.

„Was?!“, schnappte Rodney schon wieder mehr wie sein gewöhnliches Selbst, als die Pause zu lang wurde.

„Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber da fehlt ein Stück Ihres Ohres.“

„Was?!“ Die Panik war deutlich zu hören.

Sheppard konnte ein Kichern nicht unterdrücken. „Ganz ruhig, McKay. Es ist nur ein ganz kleines Stück. Das wird jeder Arzt problemlos zusammenflicken können. Spielen Sie nur nicht daran herum.“ Mit einem letzten Klapps auf Rodneys Hand, die sich schon wieder seinem Ohr näherte, drehte sich Sheppard schließlich zu den etwa zwanzig, im Publikum sitzenden Personen.

Während der ganzen Zeit hatten sie sich nicht gerührt, sondern saßen durch die schnelle Abfolge der Ereignisse vollkommen überrascht da. Mit großen Augen, die zum Teil furchterfüllt waren, zum Teil einen fassungslosen Ausdruck hatten oder einfach nur weit aufgerissen waren, folgten sie jeder Bewegung Sheppards.

„Meine Damen und Herren, ich bin Lieutenant Colonel John Sheppard und das Schlimmste ist vorbei. Wenn Sie so freundlich wären, noch für ein paar Minuten auf ihren Plätzen zu bleiben. Die Polizei ist informiert und wird jeden Moment eintreffen, um ihre Aussagen aufzunehmen. Okay?“

Für einen Moment schien sich niemand rühren zu wollen, doch dann begannen die ersten zustimmend zu nicken. John konnte förmlich spüren, wie eine Welle der Erleichterung durch die Gruppe ging. Er hatte sich bereits halb wieder umgedreht, als hinter ihm deutlich das Geräusch einer Waffe erklang, die entsichert wurde.

„Keine Bewegung, Colonel Sheppard!“, erklang eine harte Stimme. „Nehmen Sie langsam die Waffen aus ihrem Hosenbund und lassen Sie sie fallen, eine nach der anderen. Dann schieben Sie sie mit ihren Füßen zur Seite.“

John hätte sich am liebsten einen Augenblick gegönnt, um seine Augen in ohnmächtiger Wut zu schließen. Das durfte doch nicht wahr sein! Doch dann folgte er dem Befehl mit vorsichtigen Bewegungen. Als er fertig war, drehte er sich langsam um. Einer der beiden hinten sitzenden Männer war aufgestanden und hielt eine Pistole auf das Podium gerichtet. Er wirkte untersetzt und seine Haare begannen sich schon zurückzuziehen, doch auf seinem Gesicht war ein deutlicher Ausdruck von Hass zu lesen. Der Rest der Wissenschaftler sah genauso überrascht aus, wie sich Sheppard fühlte. „Was wollen Sie?“, fragte er schließlich.

„Oh, nur beenden, was diese beiden Dilettanten angefangen hatten, bevor Sie gekommen sind, um alles zu ruinieren.“

„Also war die Aktion hier Ihr Plan gewesen?“

„Ja“, schnaubte der Mann. „Man sollte meinen, jemand mit meinem IQ müsste in der Lage sein, einen Plan zu entwickeln, der funktionieren würde. Aber so etwas passiert eben, wenn man sich bei der Ausführung auf andere – geistig Minderbemittelte - verlässt. Und wenn man kaum Zeit zum Vorbereiten hat. McKay ist in letzter Zeit wirklich schwer auffindbar, so dass ich die Gelegenheit einfach nutzen musste, als ich las, dass er diesen Vortrag halten würde.“

„Was wollen Sie?“, wiederholte John seine Frage.

„Dafür sorgen, dass Doktor McKay seine gerechte Strafe erhält.“ Rodneys Titel wurde mit solcher Abscheu ausgespuckt, dass Sheppard eine dunkle Ahnung bekam. Der kleinste Anlass und das Ganze würde doch noch in einem Blutbad enden – mit Rodney als erstem Opfer.

„Ich? Was soll ich denn getan haben?“, meldete sich Rodney ungläubig zu Wort.

„Warum überrascht es mich nicht, dass Sie sich nicht einmal an mich erinnern können? Für Sie war ich wahrscheinlich nichts anderes als eine der vielen Ameisen, die Sie schon in ihrem Leben zerquetscht haben. Für mich hat es jedoch das Ende von allem bedeutet. Meine Karriere, meine Familie, mein Leben. Sie haben alles zerstört!“ Der Mann hatte sich in Rage geredet. „Und alles nur, weil es Ihnen Spaß macht, die Arbeiten von anderen Menschen zu zerpflücken!“

Sheppard versuchte sich unauffällig zwischen McKay und den Verrückten zu schieben, während dessen Aufmerksamkeit voll und ganz auf Rodney gerichtet war.

„Maynard? Sind Sie das?“

„Ah, ich sehe, der große Dr. Rodney McKay lässt sich doch dazu herab, sich an eines der niederen Wesen zu erinnern.“ Der Hohn in der Stimme des Mannes war fast greifbar.

„Lassen Sie uns darüber reden“, versuchte Rodney zu verhandeln.

Doch vergebens. „Nein! Zum Reden ist es zu spät. Jetzt werden Sie sterben!“

Als der Schuss in dem Raum laut widerhallte, war John längst in Bewegung. Er hatte den Mann nicht für eine Sekunde aus den Augen gelassen und auf jedes Zucken geachtet. In dem Moment, als dieser abdrückte, befand sich Sheppard bereits so gut wie in der Schusslinie. Mit letzter Anstrengung warf er sich direkt vor Rodney.

***

Nach einer Woche ohne wirkliche Aufgabe, ohne eine – wie es ihm schien – sinnvolle Beschäftigung, war Sheppard so weit die Wände hochzugehen. Er würde alles dafür geben, seinen Dienst wieder aufnehmen zu können, doch war er weiter davon entfernt als jemals zuvor. Ihm war klar, dass das, was er sich die letzten Tage so zugemutet hatte, Spuren hinterlassen hatte. Nur war es die einzige Möglichkeit gewesen halbwegs bei Verstand zu bleiben.

Schlaf war etwas, dem er mit fast panischer Angst aus dem Weg ging. Jeden Tag versuchte er sich bis zur Erschöpfung zu verausgaben und den Schlaf solange hinauszuzögern, bis er mehr oder weniger bewusstlos auf seinem Bett zusammenbrach. Ausgedehnte Läufe, Sparrings mit Teyla, Ronon oder seinen Marines, Zeit mit Rodney im Labor. Doch es nützte nichts. Nach zwei bis drei Stunden schreckte er regelmäßig schreiend aus Alpträumen auf, in denen er die Nährungen immer wieder bis ins kleinste Detail durchlebte. Danach war oftmals nicht an erneuten Schlaf zu denken und Sheppard zog sich meistens an, um sich bei Spaziergängen durch Atlantis abzulenken, oder zu einem weiteren zeitigen Lauf aufzubrechen.

Essen, ein anderes Problem. Nicht das er es nicht versuchte, denn Sheppard war schließlich lange genug Soldat, dass ihm bewusst war, dass er seine Kräfte erhalten musste. Doch seit seinem Zusammenstoß mit dem Wraith hatte er seinen Appetit einfach noch nicht wieder gefunden. Zum Glück schien es ganz gut zu funktionieren, dass er dem weniger Essen mit Nahrungsmitteln entgegenwirkte, die eine hohe Anzahl Kalorien enthielten. Die ein, zwei Pfund, die er in der Zwischenzeit verloren hatte, waren kaum der Rede wert und konnten durchaus auch auf sein umfangreicheres Bewegungspensum zurückzuführen sein.

Vortäuschen. Darin war er in den letzten Tagen wirklich gut geworden. Vortäuschen, dass die dunklen Ringe unter seinen Augen nicht von Alpträumen kamen. Vortäuschen, dass seine Gereiztheit nicht durch Schlafmangel verstärkt wurde. Vortäuschen, dass er Menschenmengen nicht nur deswegen aus dem Weg ging, um zufällige Berührungen zu vermeiden. Vortäuschen, dass es ihm gut ging, nur damit niemand auf die Idee kam, ihn zum Reden zu zwingen. Vortäuschen, dass er für die ständigen Mitleidsbekundungen dankbar war.

Doch wem versuchte er eigentlich etwas vorzumachen? Seinen Freunden oder sich selbst? Den Blicken seiner Teammitglieder nach zu urteilen, sahen sie durch mindestens die Hälfte seiner Täuschungsmanöver. Selbst Ronon hatte ihn während ihrer gemeinsamen Trainingsstunden besorgt angeschaut und bereits Versuche unternommen, ihn zum Reden zu bringen. Vor allem gestern, als eine der Sparringsrunden mit seinen Marines etwas aus dem Ruder gelaufen war und John beinahe die Kontrolle über sich verloren hatte. In einem plötzlichen Wutanfall war er aggressiver und rücksichtsloser als normal vorgegangen und hatte bei einem Faustkampf einem der deutlich größeren Marines aus Versehen die Nase gebrochen. Völlig entsetzt über sich selbst, hatte er Entschuldigungen ausgestoßen und war geflüchtet. Den Rest des Tages war er allen aus dem Weg gegangen.

Teyla dagegen versuchte, ihn immer wieder zum Meditieren zu bewegen, damit Sheppard eine Chance bekam, sich zu entspannen und das Erlebte endlich zu verarbeiten. Doch allein die Vorstellung daran, innezuhalten, sich irgendwo hinzusetzen und bewusst nichts zu tun, verursachte ihm Übelkeit. Selbst die Zeit, die er mit Rodney in dessen Labor verbrachte, hatte alle Ablenkung verloren. Während der Wissenschaftler den ersten Abend noch allein mit Sheppards Anwesenheit zufrieden gewesen war, versuchte auch er jetzt Gespräche anzufangen. Wenn ihm das Thema nicht so zuwider gewesen wäre, hätte John die Mühe, die sich Rodney gab, sicherlich zu würdigen gewusst und einen Weg gefunden, über dessen unbeholfenen Versuche der Anteilnahme zu lachen. Aber so war es nur eine weitere Sache, der Sheppard versuchte aus dem Weg zu gehen.

Konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

Und der neue Tag versprach nicht besser zu werden. Nachdem er aus einem weiteren Alptraum aufgewacht war, zeigte Sheppards Uhr neben seinem Bett 3.57 Uhr an. Diesmal hatte er immerhin etwas mehr als drei Stunden schlafen können. Mit einem resignierten Seufzen brachte er seinen müden Körper dazu aufzustehen und in seine Laufkleidung zu schlüpfen.

Um diese Uhrzeit waren nicht nur die Gänge um sein Quartier wie ausgestorben. Außer der diensthabenden Wache war vermutlich keiner mehr auf den Beinen. Trotzdem versuchte Sheppard auf seinem Weg zu seiner üblichen Laufstrecke jeder zufälligen Begegnung aus dem Weg zu gehen. Auch wenn er dank seines vielen Herumwanderns wahrscheinlich längst den Ruf eines Geistes weghatte.

Bei den ersten Schritten fühlte sich Sheppards Körper noch schwerfällig und wie eingerostet an. Doch mit jeder weiteren Bewegung wachten seine Muskeln langsam aus ihrer Erstarrung auf. Bis er an seinem Ziel angekommen war, hatte er bereits mit Lockerungsübungen begonnen, um sich vor dem Lauf aufzuwärmen.

Entsprechend vorbereitet, begann John schließlich mit dem Laufen. Es dauerte nicht lange und sein Verstand hatte sich dem gleichmäßigen Rhythmus seiner Füße ergeben. Dies war für Sheppard die beste Zeit des Tages. Niemals sonst gelang es ihm so gut, seine Probleme und Sorgen in den Hintergrund zu drängen und seine Gedanken zu leeren. In einem Zustand, den man fast als Entspannung bezeichnen konnte, setzte er automatisch einen Fuß vor den anderen, während er durch die leeren Gänge von Atlantis rannte.

Nur forderten die letzten Tage langsam ihren Zoll und Sheppard fing schneller an zu ermüden. Nicht bereit, schon aufzuhören, zwang er seine Beine dazu sich weiter zu bewegen und das Zittern zu ignorieren. Selbst nach dem ersten Stolpern setzte er seinen Lauf fort und reduzierte nur das Tempo ein wenig. An einer Treppe geschah es dann. In seiner Erschöpfung traf John eine Stufe nicht richtig. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, fühlte er sich fallen.

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Kapitel 4 by Lorien
Kapitel 4

Der Schuss hallte noch immer in Rodneys Ohren nach, als ein schweres Gewicht gegen ihn prallte und ihn zu Boden riss. Der Aufschlag auf den harten Untergrund trieb ihm die Luft aus den Lungen. Für einen Moment sah er nichts als Sterne. Krampfhaft versuchte er zu Atem zu kommen, doch das auf ihm liegende Gewicht drückte Rodney nieder. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er erkannte, dass das Gewicht Sheppard war.

Der Idiot hatte doch nicht etwa … nein … nein … bitte nicht …! Rodney konnte regelrecht fühlen, wie sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog. Vor allem als Sheppard keine Anstalten machte aufzustehen.

„Sheppard? Kommen Sie schon, bewegen Sie Ihren Hintern von mir runter! Was sollen die Leute denn denken?“ Das entlockte dem Colonel immerhin eine Art unverständliches Gemurmel, das verdächtig viel mit einem Grunzen gemeinsam hatte. Doch machte er keine Anstalten, sich zu bewegen.

Bevor McKay sein weiteres Vorgehen überlegen konnte, erklangen die Geräusche eines Handgemenges aus dem Publikum. Allerdings lag Sheppard so auf Rodney, dass dieser nicht an dessen Schulter vorbeischauen konnte. Also drückte er vorsichtig von unten gegen eine von Sheppards Schultern und versuchte ihn behutsam zur Seite zu rollen. Das Grunzen zeigte zwar an, dass Sheppard – noch – lebte, aber Rodney hatte keine Ahnung, ob der Colonel getroffen worden war. „Ich schwöre, für so einen dürren Körper, haben Sie ein ganz schönes Gewicht“, sagte er mit einem Keuchen. Er wollte einen Protest Sheppards hören, etwas, das Rodney die Sorgen um seinen Freund nehmen würde, doch nichts kam. Kein einziger Laut. Mit erneut aufflammender Panik und einer Verdopplung seiner Anstrengung gelang es ihm schließlich Sheppard zu bewegen und langsam von sich herunterzurollen. Denn so lange Sheppard auf ihm lag, hatte er keine Möglichkeit festzustellen, wie schwer der Colonel verletzt war.

Beim Aufrichten zeigte ihm ein kurzer Blick auf die Sitzreihen, dass einige seiner Kollegen die Sache in die Hand genommen und Maynard entwaffnet hatten. Sehr gut, aus der Richtung war also nichts mehr zu befürchten. Nun, damit würde er sich später noch auseinander setzen müssen, Sheppard war jetzt erst einmal wichtiger. Besorgt beugte er sich zu ihm hin und drehte ihn vollständig auf den Rücken.

Der große dunkle Fleck, der sich seitlich auf der rechten Brust des Colonels befand, fiel Rodney sofort ins Auge. Oh nein! In der Mitte befand sich ein Loch, durch das der Wissenschaftler blutbefleckte Haut sehen konnte. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Stoff des T-Shirts, um an die darunterliegende Wunde zu kommen.

„Sie und ihr verdammter Heldenkomplex“, murmelte er, als er das Loch in dem Stoff weiter aufriss.

Die Eintrittswunde befand sich genau dort, wo es die Spuren auf dem T-Shirt bereits hatten vermuten lassen. Wäre nicht das viele Blut gewesen, würde das kleine Loch auf der rechten Hälfte des Brustkorbs fast harmlos wirken. Irgendwie musste Rodney einen Weg finden, die Blutung zu stoppen. Hektisch suchte er nach etwas, das er als Kompresse verwenden konnte.

„Bloß gut, dass ich heute noch ein T-Shirt anhabe“, sagte er in Sheppards Richtung, als er sich schließlich aus seinem Hemd schälte. Fertig ausgezogen, legte er den Stoff mehrmals zusammen und presste ihn auf die Wunde. „Ein stetiger Blutstrom ist doch gar nicht so schlimm, oder? Viel schlimmer wäre es doch, wenn das Blut nur so hervorspritzen würde. Das würde doch bedeuten, dass eine Arterie verletzt wäre. Also brauch ich mir gar nicht so viele Sorgen machen, oder? Wo ist Carson, wenn man ihn mal braucht?“ Panisch wandte er sich in Richtung seiner Kollegen. „Hatte wenigstens einer von Ihnen soviel Verstand, einen Krankenwagen zu rufen?“

„Ja, Dr. McKay. Er müsste in spätestens fünfzehn Minuten hier sein.“ Doch Rodney hatte sich längst wieder umgedreht.

„Oh Gott, was mach ich jetzt? Die Blutung will einfach nicht stoppen. Sehen Sie, Sheppard, das Hemd ist schon zur Hälfte vollgesogen. Fester drücken, oder? Das würde Beckett jetzt vorschlagen, nicht wahr?“ Vorsichtig erhöhte Rodney den Druck auf die Wunde. Sheppards einzige Reaktion bestand aus einem Stöhnen.

„Sorry, sorry, sorry, sorry …“, murmelte McKay hilflos. Beim Aufblicken sah er, dass Sheppards Augen offen waren. „Oh, Sie sind wach. Das ist doch ein gutes Zeichen. Jetzt müssen wir Sie nur bei Bewusstsein halten.“

Als Sheppard mehrmals vergeblich zum Sprechen ansetzte, brachte Rodney sein Ohr dicht an dessen Mund heran. „M’kay … alles ’n Ordn’g?“, flüsterte er kaum wahrnehmbar.

„Jajaja“, beeilte sich Rodney zu bestätigen. „Mir geht es gut, nicht ein Kratzer dank Ihnen. Nun, zumindest kein weiterer Kratzer. Sie sollten sich lieber um sich selber Sorgen machen! Was war denn dass wieder für eine völlig verrückte Aktion? Nicht, dass ich nicht dankbar wäre, oder so. Aber was haben Sie sich nur dabei gedacht? … Was? Oh, Sie wollen etwas sagen. Tut mir leid, Sie wissen ja wie ich bin. Wenn ich nervös bin, kann ich einfach nicht aufhören zu reden. Okay, ich bin ja schon ruhig.“ Der Wissenschaftler beugte sich wieder herunter.

„Mein Leb’n … ’s nich’ so wichtig … wie …“

„Was?“ Rodney konnte die aufsteigende Wut nicht ganz unterdrücken. „Wo kommt denn der unsinnige Gedanke auf einmal her? Ist es das, was Sie die letzten Wochen so beschäftigt hat, Colonel? Glauben Sie, dass Sie es nicht verdient haben, Kolyas Folter überlebt zu haben? Dass sich ein Wraith von so vielen gerade Sie ausgesucht hat, um Ihnen das Leben zurückzugeben?“ Am liebsten würde er Sheppard ein wenig Verstand einschütteln.

„’S tut mir … leid …“ Sheppard schloss er schöpft die Augen.

„Oh nein, Sie werden jetzt nicht einfach aufgeben! Sheppard!“ Doch dessen einzige Reaktion war ein schwaches Husten. „Wo bleiben die verdammten Sanitäter?“, schrie Rodney verzweifelt über seine Schulter.

„Die brauchen immer noch etwa sieben Minuten.“ Einer der Wissenschaftler, der in der ersten Reihe gesessen hatte, kniete sich neben McKay und griff in Richtung der Behelfskompresse. „Lassen Sie mich Ihnen helfen.“

„Finger weg! Das bekomme ich schon hin. Sorgen Sie lieber dafür, dass die Sanitäter den Weg hierher finden!“

Rodney richtete seine Aufmerksamkeit wieder völlig auf seinen leblos daliegenden Freund. Das durfte einfach nicht wahr sein. „Sheppard!“, rief er frustriert. „Kommen Sie schon, bleiben Sie wach! Sheppard! Ich weiß, dass Sie noch irgendwo da drin sind, also öffnen Sie gefälligst Ihre Augen! Sie werden auf keinen Fall sterben, während ich hier mit Ihrem Blut an meinen Händen dasitze. Wir könnten jetzt wirklich etwas von Ihrer sonst so nervigen Sturheit gebrauchen. Ich will Sie doch noch wegen ihrer Verkleidung aufziehen. Was haben Sie sich nur dabei gedacht, einen Mittelscheitel zu versuchen? Sie hätten Ihre Haare sehen müssen, einfach nur lächerlich! Was hätte ich in dem Moment nicht für eine Kamera gegeben. Nicht, dass davon jetzt noch viel übrig ist. Ich kann nicht glauben, dass es nur ein paar hektischer Bewegungen bedurfte und schon waren Ihre Haare wieder in ihrem üblichen Durcheinander. Und ich dachte immer, Sie würden jeden Morgen Stunden damit zubringen jede einzelne Strähne zurechtzulegen.“ McKay wusste, dass er ziemlich unsinniges Zeug redete. Und wenn das jemand auf Band aufnähme, wäre er wohl genauso peinlich berührt, wie Sheppard bei dem Mittelscheitelphoto. Aber er wollte unter allen Umständen versuchen Sheppard das Gefühl zu geben, dass jemand da war, dass sich jemand um ihn kümmerte.

„Dr. McKay.“ Unvermittelt tauchte neben Rodney eine uniformierte Gestalt auf. „Können Sie mir vielleicht sagen, was passiert ist?“

„Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin?“, fuhr der Wissenschaftler den Polizisten an. „Sie können doch selbst sehen, dass er angeschossen wurde. Und jetzt verschwinden Sie und belästigen Sie jemand anderen mit ihren Fragen!“

Rodney ignorierte weiterhin alles, was um ihn herum geschah und studierte Sheppards unnatürlich blasse Haut. „Sheppard!“, versuchte er noch einmal seinen Freund zu erreichen. Diesmal begeleitete er den Ausruf mit einem leichten Rütteln seines Oberkörpers. Ohne wirklich aufzuwachen, gab Sheppard ein weiteres Husten von sich. Als er wieder ruhig dalag, entdeckte Rodney Blut auf den Lippen.

In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. „Oh Gott, die Stelle der Eintrittswunde … die Kugel hat die Lunge verletzt und jetzt ertrinken Sie in ihrem eigenen Blut, nicht wahr?“ Besorgt und in einer etwas merkwürdigen Haltung, da er weiterhin Druck auf die Wunde ausübte, versuchte Rodney nach Atemgeräuschen zu lauschen. „Bitte, Sie müssen weiteratmen. Laufen Ihre Lippen etwa schon blau an? Sheppard! Verdammt noch mal, ich fühle doch, dass sich ihr Brustkorb kaum noch bewegt.“ Hilflos musste McKay mit ansehen, wie Sheppard immer schwächer wurde. „John …“, wurde sein Flehen in gleichem Maße immer verzweifelter.

Gerade als er sich davon überzeugt hatte, dass jede Hilfe zu spät kommen würde, wurde McKay rigoros zur Seite geschoben und zwei Sanitäter begannen sich professionell um Sheppard zu kümmern. Plötzlich konnte Rodney nichts mehr machen, außer hilflos daneben zu stehen und zuzuschauen. Es war jedes Mal das Gleiche! Wann immer Sheppard in der Krankenstation landete, gab es einen Augenblick, ab dem Rodney zu unbeteiligtem Beobachten verdammt wurde und ab dem er viel zu viel Zeit zum nachgrübeln hatte. Diesmal beherrschte seine Gedanken vor allem die Erinnerung an den Tag, als Sheppard das Zusammentreffen mit Kolyas Wraith überlebt hatte … als Carson ihn und die anderen des Teams einfach aus der Krankenstation ausgeschlossen hatte.

***

„Wie geht es Colonel Sheppard?“ Mit der an Beckett gerichteten Frage eröffnete Elizabeth das Treffen, bei dem außer dem Arzt noch die restlichen Mitglieder von Sheppards Team anwesend waren.

Rodney beobachtete, wie Carson für einen Moment seine mitgebrachten Notizen hin und her schob, nur um dann doch frei zu reden. „Erstaunlicherweise geht es dem Colonel den Umständen entsprechend gut. Alles, was er sich bei dem Sturz zugezogen hat, sind ein paar blaue Flecken und eine leichte Gehirnerschütterung.“

„Und warum ist er dann nach zwei Tagen immer noch bewusstlos?“, mischte sich McKay ein. Er war immer noch nicht darüber hinweg, dass sie so lange gebraucht hatten, Sheppards Fehlen zu bemerken und dieser für so viele Stunden unbemerkt in dem kaum benutzten Bereich von Atlantis gelegen hatte. Nachdem ihnen seine Abwesenheit erst einmal aufgefallen war, war es nur eine Frage der richtigen Kalibrierung der internen Sensoren gewesen. Und dann hatten sie sein Lebenszeichen in kürzester Zeit gefunden. Doch bis dahin … Mit einer bewussten Anstrengung riss sich Rodney von seinen Gedankengängen los und konzentrierte sich auf Becketts Antwort.

„Er ist nicht wirklich bewusstlos, sondern schläft. Und er schläft immer noch, weil er völlig erschöpft ist. Damit wären wir auch gleich beim eigentlichen Problem. Der Colonel hat in der vergangenen Woche weder ausgewogen gegessen noch ausreichend geschlafen. Die Reserven seines Körpers sind einfach aufgebraucht. Ich fühle mich verantwortlich, Elizabeth. Ich hätte Sheppards Zustand viel eher erkennen müssen.“

Rodney platzte dazwischen: „Wie denn, Carson? Mr. ‚Mir-geht-es-auch-dann-noch-gut,-wenn-ich-schon-tot-bin’ hat uns doch alle an der Nase herumgeführt.“

„Schon, aber ich bin sein Arzt, Rodney!“ Beckett sah aus, als würde er gleich anfangen zu heulen.

Mit einem Schnauben antwortete McKay: „Ja und? Wir sind sein Team und haben es nicht erkannt. Wir haben täglich mehr Zeit mit ihm verbracht, als Du in einer Woche.“

„Ich glaube schon, dass wir alle auf die ein oder andere Art erkannt haben, dass es Colonel Sheppard nicht gut ging“, meldete sich Teyla mit leiser Stimme zu Wort. „Die Zeichen waren nicht wirklich zu übersehen. Ich denke allerdings, dass wir nach dem, was wir bei den Übertragungen gesehen hatten, uns nicht getraut haben, den Colonel darauf anzusprechen. Wir hatten alle gesehen, wie schlimm es gewesen war und waren dadurch viel eher geneigt, ihm das Recht auf Alpträume und Appetitlosigkeit zuzugestehen. Im Gegenteil, wir waren doch sogar positiv überrascht, dass er sich überhaupt so gut im Griff hatte. Gleichzeitig haben wir alle gehofft, dass unsere ständige Anwesenheit und unsere Angebote mit ihm zu reden, wenn er möchte, ausreichen würden. Und darin liegt unsere Schuld gegenüber Colonel Sheppard.“

Für einen Moment herrschte Stille im Konferenzraum, als alle Anwesenden ihren eigenen Gedanken nachhingen und die letzte Woche Revue passieren ließen. Rodney dachte an die Zeit, die er mit Sheppard verbracht hatte und versuchte sich zu erinnern, wo er etwas hätte anders machen können.

„Willst Du damit sagen, dass wir ihn hätten zwingen sollen, mit Heightmeyer zu reden?“, brach er schließlich das Schweigen.

„Nicht unbedingt mit Dr. Heightmeyer, aber mit irgendjemandem schon.“

„Aber ich dachte, genau das hätten wir alle versucht. Sheppard zum Reden zu bringen, meine ich. Als ob das so gut funktioniert hätte.“ McKay schaute alle herausfordernd an. „Jedes Mal, wenn ich versucht habe ein Gespräch über das Geschehene vorzuschlagen oder irgendwie einzuleiten, hat er doch sofort abgeblockt. Das eine Mal ging es so weit, dass er mich einfach hat stehen lassen. Und danach fand er plötzlich immer mehr Ausflüchte, warum er keine Zeit habe, mir im Labor zu helfen. Und nein, ich glaube nicht, dass das daran lag, weil ich nicht sensibel genug an das Thema herangegangen wäre.“

„Die Frage ist doch, wie wir jetzt weiter vorgehen“, versuchte Weir das Thema auf den eigentlichen Grund des Treffens zu bringen. „Atlantis braucht seinen militärischen Leiter zurück und wenn Sheppard nicht dazu in der Lage ist, muss ich ihn auf die Erde zurückschicken.“

Das geschockte Schweigen in dem Raum war fast greifbar. Rodney sah, dass nach den vergangenen drei Jahren allen bewusst war, was es für Sheppard bedeuten würde, wenn er diesen Posten verlöre. Atlantis war für den Colonel mehr ein Zuhause, als es die Erde jemals gewesen zu sein schien. Der Wissenschaftler würde auf keinen Fall zulassen können, dass es so weit kam. Krampfhaft suchte er nach einem Ausweg.

„Äh … könnten wir mit den drastischen Maßnahmen vielleicht noch ein wenig warten“, schlug er schließlich vor. „Ich habe da möglicherweise eine Idee.“

„Okay, Rodney. Was ist es?“ Elizabeth wirkte müde, doch gleichzeitig bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen.

„Vielleicht ist der Gedanke eines Szenenwechsels gar nicht so schlecht. Möglicherweise würden ein paar Tage auf der Erde Sheppard helfen, das Geschehene zu verarbeiten. Oder zumindest damit zu beginnen. Weit weg von allen Erinnerungen an die letzte Woche.“

„Ich glaube nicht, dass es so eine gute Idee ist, Colonel Sheppard im Moment alleine zu lassen. Er hat leider bewiesen, dass kein Verlass darauf ist, dass er für sich selbst sorgen kann.“

„Das ist ja das Gute, Elizabeth. Ich würde ihn begleiten. Oder besser gesagt, er mich. Sie wissen sicherlich, dass das SGC ab und an kleinere Fortschritte in Wissenschaft und Technik der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Einmal, um öffentliche Forschungen voranzubringen, aber andererseits auch, um einige der Erfindungen, die im Zuge des Stargate Programms entstanden sind, nach und nach an die Öffentlichkeit zu bringen. Vor einiger Zeit wurde ich darum gebeten, Unterlagen zu meiner Arbeit über die Effizienzsteigerung bei der Gewinnung erneuerbarer Energien zusammenzustellen. So weit ich informiert bin, soll der entsprechende Vortrag in ein paar Tagen stattfinden. Ich bin mir sicher, dass das SGC nichts dagegen hätte, wenn ich die Präsentation übernehmen würde, schließlich ist es meine Arbeit. Und Sheppard könnte sozusagen als mein Aufpasser mitkommen.“ Selbstzufrieden grinste er in die Runde.

„Das könnte tatsächlich funktionieren“, sagte Weir nach einer kurzen Pause nachdenklich. „Auf diese Weise brauchen wir Worte wie Heimaturlaub gar nicht erst zu verwenden. Ich kann ihm einfach befehlen, dass er Sie begleitet. Aber Rodney, Sie wissen, wenn das nicht funktioniert, müssen wir auf Gesprächen mit einem Psychologen bestehen. Vielleicht müssen wir das sogar selbst wenn es funktioniert.“ Mit einem müden Seufzen schaute sie in die Runde.

„Jaja“, antwortete Rodney mit einer wedelnden Handbewegung. „Ich krieg das schon hin. Wer von uns übernimmt die Aufgabe, es Sheppard beizubringen?“

Daraufhin meldete sich Beckett wieder zu Wort. „Wenn Colonel Sheppard aufwacht, werde ich mit ihm erst einmal ein ernsthaftes Gespräch über seinen Gesundheitszustand führen müssen. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, wenn Sie dabei in ihrer Funktion als Expeditionsleiterin anwesend wären, Elizabeth.“

„Einverstanden, dann werde ich diese Gelegenheit auch gleich dazu nutzen, Colonel Sheppard zu informieren. Vorher jedoch werde ich mich mit dem SGC in Verbindung setzen und alles arrangieren.“

Damit war das Treffen beendet und Rodney begab sich in sein Labor, um eigene Vorbereitungen zu treffen. Er musste schließlich sicher sein können, dass keiner seiner Untergebenen in seiner Abwesenheit Atlantis aus Versehen versenken würde. Bis tief in die Nacht hinein saß er da und verteilte Aufgaben, brachte laufende Projekte zu einem vorläufigen Abschluss und schrieb nützliche Hinweisschilder. Wie zum Beispiel: ‚Finger weg, Radek, oder ich veröffentliche die Bilder mit ihrer Kriegsbemalung!’

Völlig erschöpft fiel er schließlich in den frühen Morgenstunden in sein Bett.

Rodney träumte davon, wie kräftige, gut geölte Finger über seine Haut strichen. Mit einem Geräusch, das verdächtig nach einem Schnurren klang, lehnte er sich in die Berührung und genoss das Durchkneten seiner verspannten Muskeln.

„Oh Gott, ja … Fester!“, murmelte er selig.

„McKay!“

„Tiefer … noch ein Stück … ja, genau da …“

„Wachen Sie auf, McKay!“

Verwirrt blinzelnd öffnete Rodney die Augen. Was suchten die Hände denn vor seinem Gesicht, er konnte sie doch noch immer auf seinem Rücken spüren?

„Das muss aber ein toller Traum sein, wenn Sie so gar nicht munter werden wollen.“

Noch immer nicht ganz wach, folgte McKays Blick den zu den Händen gehörenden Armen bis er ein vertrautes Gesicht sah. „Warum haben Sie aufgehört? Setzen Sie die Massage fort!“, verlangte er nuschelnd.

„Uh …“ John Sheppard sah hilflos stotternd auf den Wissenschaftler hinab. „Ähm … ich … also … ich … ich denke nicht, dass das so eine gute Idee wäre.“

Rodney fühlte sich, als ob jemand einen Eiskübel über ihm ausgeleert hätte. „Sheppard!“ Mit einem Schlag war er hellwach und setzte sich mit glühendem Gesicht in seinem Bett auf. „Was … was … wollen Sie zu dieser Zeit in meinem Raum?“, versuchte er den peinlichen Moment zu überspielen. „Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?“

„Durch die Tür“, sagte Sheppard mit einem spitzbübischen Grinsen.

„Aber es war abgesperrt!“

„Sie sind nicht der Einzige, der in Atlantis Schlösser überbrücken kann.“

Oh Gott, war das etwa ein Zwinkern im Gesicht des Colonels? Rodney spürte die Erinnerung an den Traum noch immer lebhaft in seinem Kopf. Wie als Schutzwall hob er seine Bettdecke und wickelte sie fest um sich herum. „Und das müssen Sie mir unbedingt so früh am Morgen vorführen?“

„Es ist schon nach zwölf, McKay.“

„Oh … Das beantwortet aber immer noch nicht meine Frage danach, was Sie hier wollen. Und warum sind Sie nicht mehr auf der Krankenstation?“

„Beckett hat mich entlassen - um zu packen.“ Plötzlich war alles Spielerische aus Sheppards Gesicht verschwunden. „Wir müssen reden“, sagte er in einem harten Tonfall, der Rodney einen Schauer über den Rücken schickte.

„Reden? Sie? Mit mir?“, fragte er mit einem nervösen Auflachen. „Ich glaube, es gibt in Atlantis keine zwei Menschen, denen es schwerer fällt, ein ernsthaftes Gespräch zu führen.“

„Glaubt ihr eigentlich alle, ich wäre dumm?“, fuhr Sheppard fort, als hätte er Rodney nicht gehört. „Denkt ihr wirklich, mir wäre nicht klar, warum ich auf die Erde geschickt werde? Und dann auch noch mit Ihnen als Aufpasser!“ Mit blitzenden Augen schaute er McKay direkt an. „Ich kann für mich selbst sorgen, ich bin kein kleines Kind mehr!“

„Sicher?“ Jetzt war Rodney an der Reihe wütend dreinzuschauen. „So wie Sie sich die letzte Woche verhalten haben, käme man nicht auf die Idee. Können Sie sich vorstellen, wie es für uns war, Sie am Fuße dieser Treppe liegend zu finden?“ Sheppard hatte immerhin den Anstand schuldbewusst zur Seite zu schauen, doch Rodney war noch nicht fertig. „Schauen Sie sich an! Sie sehen schlimmer aus, als zu dem Zeitpunkt, als Sie von ihrem Zusammentreffen mit Kolya und dem Wraith zurückgekommen sind. Wir machen uns Sorgen!“

Sheppard murmelte etwas Unverständliches.

„Wie bitte?“ Rodney schaute ihn durchdringend an.

„Genau das ist das Problem“, kam es nicht wirklich viel lauter, aber wenigstens identifizierbar. Sheppard konnte McKay zunächst nicht direkt anschauen, doch wurde er mit jedem weiteren Wort immer sicherer. „Wie soll ich es denn vergessen können, wenn mich alle mit Sorge und Mitleid anschauen? Nicht einer hat es in der letzten Woche geschafft, mich so zu behandeln wie vorher. Alle sind mit mir umgegangen, als wäre ich ein rohes Ei, das jeden Moment zerbrechen könnte. Es zehrt an meinen Nerven. Irgendwann fängt man dann selbst an, ständig darauf zu warten, dass man zusammenbricht“, endete er schließlich mit fester Stimme.

„Aber …“ Rodney wusste nicht, was er zur Rechtfertigung hervorbringen sollte und schloss lahm mit: „Ich hatte ja keine Ahnung.“

„Intellektuell weiß ich, dass ihr mir alle nur helfen wollt – doch das ist keine Hilfe. Und wenn ich jeden Tag so viel Zeit habe, dass ich nicht mehr weiß, was ich machen soll, fange ich nun mal an durchzudrehen. Warum konnten wir nicht einfach alles weiterlaufen lassen, wie es vorher war? Ich hätte mich eine Zeitlang mit Alpträumen herumgeschlagen und irgendwann alles schön säuberlich in einen Winkel meines Bewusstseins gestopft.“

Sheppard schaute so verloren aus, dass Rodney am liebsten zu ihm gegangen wäre, um ihn tröstend in die Arme zu nehmen. Stattdessen versuchte er die Reste seiner üblichen Persönlichkeit zusammenzukratzen. „In Ordnung!“, sagte er unternehmungslustig. „Dann werden Sie ab sofort wieder meinen vollen Sarkasmus zu spüren bekommen. Und wenn Ihnen mein liebenswertes Wesen wieder mal fehlen sollte, dann sagen Sie das nächste Mal bitte eher Bescheid.“ Mit leichterem Herzen registrierte er Sheppards Glucksen. „Und jetzt gehen Sie ihre Sachen packen. Sehen Sie das Ganze einfach als Chance. Auf der Erde wird niemand außer mir und vielleicht ein zwei Leuten im SGC wissen, was passiert ist. Da werden Sie alle ganz normal behandeln. Und wenn die Präsentation vorbei ist, können wir die Gelegenheit nutzen, mal ein paar ganz gewöhnliche Sachen zu unternehmen.“ Rodney wusste noch nicht was – aber nach so langer Abwesenheit musste es doch einfach etwas auf der Erde geben, das sie auf Atlantis vermissten.

Mit einer kurzen Pause und einem drohend vorgestreckten Zeigefinger versuchte er seinen nächsten Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Wenn Sie irgendein Wort, von dem was ich jetzt sage, jemals außerhalb dieses Raumes wiederholen, werde ich einen Weg finden, Sie unauffällig zu beseitigen. Selbst wenn ich dafür erneut drei Viertel eines Sonnensystems in die Luft jagen müsste. Ist das klar?“

Sheppards hochgezogene Augenbraue ließ Rodney schnell fortfahren, bevor ihn der Mut verließ. „Wir könnten Essen gehen, einen Film anschauen, in einem richtigen Kino, vielleicht ein paar Geschenke für Teyla und Ronon besorgen.“

„Was denn, McKay, wollen Sie mich zu einem Date einladen?“, grinste Sheppard.

„Ich sage nur: große Explosion. Keinerlei Überreste“, verdeutlichte McKay mit todernster Miene das über Sheppard schwebende Unheil.

Aus dem Grinsen wurde ein lautes Lachen und es war das Schönste, was Rodney seit langem gehört hatte. „Schon gut, McKay. Ich werde keinem etwas sagen, aber Sie bezahlen.“

„Einverstanden! Und jetzt gehen Sie packen.“

Drei Tage später befanden Sie sich in einem Hörsaal, der zum Campus einer kleinen Privatuniversität gehörte. Diese lag in einer mittelmäßigen Stadt, die außer dieser einen wichtigen Einrichtung nicht wirklich viel zu bieten hatte.

weiter: Kapitel 5
Kapitel 5 by Lorien
Kapitel 5

Auch wenn ihm die Sanitäter die Versorgung des Colonels aus den Händen genommen hatten, war Rodney nicht bereit, sich völlig zur Seite drängen zu lassen. In unnachgiebiger Art bestand er darauf, mit ihnen im Krankenwagen mitzufahren. Zunächst weigerten sie sich, aber dann stimmte das Argument, dass McKay in Sheppards Patientenverfügung, die jedes Mitglied der Atlantis-Expedition hatte ausfüllen müssen, als Bevollmächtigter aufgeführt war, die Sanitäter schließlich um.

Trotz des Einsatzes der Sirenen schien die Fahrt zum nächstgelegenen Krankenhaus für Rodney kein Ende zu nehmen. Minuten dehnten sich auf einmal ins Unendliche und aus Sekunden wurden Stunden. Als Sheppards Lebenszeichen dann plötzlich abstürzten, schien die Zeit für einen Moment stillzustehen.

Rodney war viel zu geschockt, um einen klaren Gedanken zu fassen und konnte nur hilflos zuschauen, wie die Sanitäter versuchten, Sheppards Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass der Wissenschaftler so eine Szene beobachtete, war sie nicht leichter zu ertragen. Eher im Gegenteil. Während die Gestalt am Boden des Jumpers vor fast drei Jahren ‚nur’ Major Sheppard, militärischer Leiter von Atlantis, gewesen war, handelte es sich bei dem Körper, der da direkt vor seinen Augen Elektroschocks verpasst bekam, jetzt um John Sheppard, einen der besten Freunde, den er jemals gehabt hatte.

Nach einem scheinbar nie enden zu wollenden Augenblick, verriet ein erlösendes Piepen der angeschlossenen Geräte schließlich, dass die Sanitäter den Kampf gegen den Tod diesmal gewonnen hatten. Rodney stieß langsam seinen Atem aus, von dem er gar nicht bemerkt hatte, dass er ihn angehalten hatte. Bei all den Beinahekatastrophen und Sorgen, die er sich ständig um den Colonel machen musste, war es ein Wunder, dass er noch keine grauen Haare hatte.

Unsicher lauschte er für den Rest der Fahrt auf das Geräusch des Monitors, der Sheppards Herzschlag überwachte, und achtete ängstlich auf jede Unregelmäßigkeit. Doch besonders schlimm war für Rodney der Moment, in dem er nicht mehr weiter mitgehen durfte. Als die Türen vor seiner Nase zugeschlagen wurden und das unerträgliche Warten begann. Er wusste schon immer, dass er ein kein geduldiger Mann war und er die meisten Zeitspannen nur dann erträglich überstehen konnte, wenn er etwas zu tun hatte. Vorzugsweise irgendwelche komplizierte Probleme, die er lösen konnte. Doch selbst wenn er seinen Laptop geistesgegenwärtig eingepackt hätte, hätte er sich wohl nicht darauf konzentrieren können. Denn noch nie war ihm das Warten so schlimm vorgekommen. Vielleicht lag es an der unvertrauten Umgebung, vielleicht lag es auch daran, dass er hier allein und nicht zusammen mit seinem Team saß oder vielleicht lag es daran, dass Sheppards Leben nicht in Carsons fähigen Händen lag – nicht, dass er diesen Gedanken dem Schotten gegenüber jemals erwähnen würde -, sondern in den Händen von völlig Fremden. Wahrscheinlich war es jedoch eine Kombination all dessen.

Der Schockzustand, in dem sich McKay seit der Fahrt im Krankenwagen, nein, eigentlich seit dem Überfall in der Universität befand, hatte ihn fest im Griff und ließ ihn unnatürlich ruhig, ja fast apathisch sein. Ohne das Geschehen um ihn herum wirklich wahrzunehmen, saß Rodney hilflos in dem vollen Wartesaal der Notaufnahme und harrte darauf, dass jemand kam, um ihn über Sheppards Zustand zu informieren. Alles was er sah, war die Tür, hinter der die Trage mit dem Colonel verschwunden war. Er wandte nicht einmal seine Augen ab, als sich eine der Krankenschwestern erbarmte und mit einem feuchten Tuch versuchte Sheppards Blut, das sich noch immer an seinen Händen befand, zu entfernen.

Als endlich jemand durch die Tür kam, der Neuigkeiten für Rodney hatte, wäre er nie in der Lage gewesen zu sagen, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war. Es konnte sich genauso gut um fünf Stunden wie um fünf Minuten gehandelt haben. Vermutlich lag die Realität irgendwo dazwischen. Doch in dem Moment, als plötzlich ein Arzt vor ihm stand, war es, als ob der Schock von ihm abfallen würde, kehrte all die unterdrückte Energie mit einem Schlag zurück und er sprang hastig von seinem Stuhl auf.

Ohne seinem Gegenüber die Chance zu geben, überhaupt den Mund aufzumachen, lief McKay vor dem Arzt auf und ab, rang die Hände und rief mit nervösem Gebaren, „Er ist tot, oder? Sie sind hier, um mir zu sagen, dass er es nicht geschafft hat, nicht wahr?“

„Beruhigen Sie sich bitte, Mister …?“, versuchte der ziemlich jung wirkende Arzt Rodney zu beschwichtigen.

„Doktor! Doktor McKay!“

„Okay, Dr. McKay. Mein Name ist Dr. Chandler und wenn ich es richtig verstanden habe, sind Sie als Colonel Sheppards nächster Angehöriger eingetragen.“

„Jaja, also nichts von wegen, Sie dürften mir nichts verraten, weil wir nicht blutsverwandt sind. Und jetzt sagen Sie mir endlich, wie es ihm geht“, verlangte Rodney mit einer ungeduldigen Handbewegung zu wissen. Nur in allerletzter Sekunde nahm er davon Abstand, den Arzt am Kittel zu packen und zu schütteln.

„Vielleicht sollten Sie sich lieber hinsetzen.“

„Ich will mich aber nicht … Oh Gott, Sheppard ist tot und Sie versuchen jetzt, mir das schonend beizubringen“, stieß Rodney stammelnd hervor. „Als ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, jemandem schonend beizubringen, dass sein bester Freund tot ist.“ Leichenblass geworden, sank er auf seinen Stuhl zurück.

„Colonel Sheppard lebt“, versicherte der Arzt. „Aber ich möchte ehrlich mit Ihnen sein, ihr Freund ist sehr schwer verletzt. Die Kugel ist beim Eintritt in den Brustkorb in einem flachen Winkel von einer Rippe abgeprallt und hat dabei einigen Schaden angerichtet, bevor sie in der Lunge stecken geblieben ist. Ihr Freund hat vor allem durch innere Blutungen sehr viel Blut verloren, doch ist es uns gelungen, ihn so weit zu stabilisieren, dass er operiert werden kann. Zurzeit ist ein Team von Chirurgen damit beschäftigt, alle Schäden zu reparieren. Die Operation wird bestimmt noch einige Zeit dauern und danach wird Colonel Sheppard auf die Intensivstation verlegt. An eine Verlegung in ein Militärkrankenhaus ist derzeit nicht zu denken. Die verantwortlichen Ärzte werden Ihnen dann sicherlich mehr zu seinem Zustand sagen können. Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann zeige ich Ihnen den entsprechenden Wartebereich, damit Sie nicht hier in der Notaufnahme sitzen müssen. Dort gibt es auch ein Telefon, wenn Sie irgendjemanden benachrichtigen wollen.“ Dr. Chandler wandte sich zum Gehen, hielt dann aber wieder inne. „Ach, noch etwas. Ein Polizist hat sich schon nach Ihnen und ihrem Freund erkundigt und will sicherlich bald mit Ihnen reden. Wenn Sie möchten, kann ich ihm ausrichten, dass er warten soll, bis Colonel Sheppard aus dem OP ist.“

„Uh …“ Rodney hatte für einen Moment Mühe, dem Arzt zu folgen, da er in Gedanken noch immer bei der Liste von Sheppards Verletzungen war. „Ja … Ja, sagen Sie ihm das.“

Dann ließ er sich zu dem den Operationssälen zugeordneten Wartebereich führen. Doch bevor er wieder die kaum erträgliche Aufgabe des Ausharrens begann, nutzte er das in einer ruhigen Ecke angebrachte Telefon, um das SGC über die aktuellen Entwicklungen zu informieren. Aufgrund des früheren Anrufes von Sheppard, stellte man Rodney umgehend zu General Landry durch, der ihm versicherte, dass er Leute schicken würde, die sich um die lokale Polizei und alles weitere in der Universität kümmern würden. Zusätzlich versprach er, dass Dr. Lam innerhalb von wenigen Stunden da sein würde, um Sheppards weitere Behandlung zu übernehmen, bis man ihn in den Cheyenne Mountain verlegen konnte. An die Alternative, dass Sheppard es nicht schaffen könnte, weigerten sich beide auch nur zu denken.

Danach blieb ihm nichts Anderes übrig, als weiter zu warten. Ohne wieder in seinen früheren Schockzustand abzurutschen, saß Rodney für seine Verhältnisse trotzdem immer noch viel zu ruhig da. Nur langsam begannen die Geschehnisse der letzten Stunden so richtig in sein Bewusstsein einzudringen. Müde rieb er sich mit seinen Händen über das Gesicht, um die Erschöpfung zu vertreiben, die sich nach und nach in seinen Knochen einnistete.

Um sich abzulenken, sah er sich in dem Raum um. Im Gegensatz zu den sonst üblichen beige-grauen Krankenhausfarben und –einrichtungen hatte man sich doch tatsächlich Mühe gegeben, den Raum freundlich zu gestalten und mit halbwegs bequemen Sesseln auszustatten. Auf einer Couch, Rodney direkt gegenüber, saß eine Familie. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, die dicht zusammengedrängt und aneinandergeklammert auf Neuigkeiten – wahrscheinlich über den Ehemann/Vater - warteten. Der ältere Mann rechts an der Wand, saß dagegen wie Rodney ganz alleine da und schaute verloren in die Luft. Der ganze Raum war erfüllt von Unsicherheit und Angst, aber auch einem kleinen Quäntchen Hoffnung.

Wie dicht Freud und Leid beieinander lagen, erlebte Rodney, als einige Zeit später ein Arzt zunächst der jungen Mutter offensichtlich positive Nachrichten brachte und sie ihm in ihrem Glück um den Hals fiel. Kurz darauf kam jedoch ein weiterer Arzt, der sich mit müden Bewegungen zu dem alten Mann setzte. Rodney konnte nicht hören, was gesagt wurde, doch der tränenreiche Zusammenbruch des Mannes ließ nur wenig Raum für Spekulationen.

Danach war er für einige Zeit allein. Als er es nicht mehr aushielt, begann er zwischen den Sesseln hin und her zu wandern und die Bilder an den Wänden zu studieren. Vermutlich Repliken teurer Werke, die er sich persönlich aber nie irgendwo hinhängen würde. Wofür manche Leute so Geld bekamen … Mit einem Schulterzucken setzte Rodney seine Wanderung fort. Erst als ein offensichtlich aufgewühltes Ehepaar mittleren Alters den Raum betrat, zwang er sich dazu sich wieder hinzusetzen.

Als der Stress des Tages schließlich begann, Rodney einzuholen und er Mühe bekam, die Augen offen zu halten, kam ein älterer Arzt in OP-Kleidung auf ihn zu. „Sind Sie für Colonel Sheppard hier?“

Ein Kloß im Hals verhinderte, dass McKay mehr als nur Nicken konnte.

„Ich werde ehrlich mit Ihnen sein.“ Oh Gott, nicht schon wieder dieser Satz, schoss der entsetzte Gedanke durch Rodneys Kopf. „Ich habe schlechte und weniger schlechte Nachrichten für Sie. Colonel Sheppard hat die Operation überlebt und wir haben unser Bestes gegeben, um alle Schäden, die die Kugel in seinem Körper angerichtet hat, zu reparieren. Unglücklicherweise waren die Verletzungen schlimmer als angenommen. Weitere Komplikationen gab es, als wir ihn auf dem OP-Tisch beinahe zweimal verloren hätten. Trotz all unserer Bemühungen konnten wir nicht verhindern, dass Colonel Sheppard ins Koma gefallen ist. Im Moment ist er halbwegs stabil, doch sehr schwach. Es tut mir leid, aber es besteht die nicht geringe Chance, dass er die nächsten Stunden nicht überleben wird.“

„Kann …“ Das Krächzen konnte unmöglich Rodneys Stimme sein. „Kann ich zu ihm?“

„Im Moment wird er gerade auf ein Zimmer der Intensivstation verlegt, wo wir ihn unter ständiger Beobachtung halten werden. Ich schicke eine Schwester zu Ihnen, wenn alles aufgebaut ist. Bei so einem Fall sind die sonst geltenden Bestimmungen zu Besuchszeiten natürlich aufgehoben.“ Bei so einem Fall? Mit diesem Satz wurde Rodney erst wirklich bewusst, dass der Arzt nicht mit Sheppards Überleben rechnete. Schwärze und bodenlose Verzweiflung waberte von allen Seiten auf ihn zu und er musste sich setzen. Nein! Nein! Nein! Wären sie doch nur nie auf die Erde gereist, hätte er doch nur nie vorgeschlagen … Rodneys Kopf quoll über mit Vorwürfen.

Wie in Trance folgte er der Krankenschwester, die kurze Zeit später auftauchte und ihn zu Sheppard führte. Wenn er sich innerlich nicht schon so taub gefühlt hätte, wäre er beim Anblick des Colonels sicherlich entsetzt zusammengezuckt. Sheppard wirkte so blass und zerbrechlich auf den weißen Laken und neben all den Geräten, dass Rodney seinen Freund für einen Moment beinahe nicht erkannt hätte. Der Beatmungsschlauch verdeckte die Hälfte seines Gesichtes. Überall waren Kabel und Schläuche angebracht, die zu und von Sheppards Körper führten. Zudem war das Laken nur bis zur Hälfte des Oberkörpers hochgezogen, so dass Rodney problemlos die dicken Verbände sehen konnte, die die rechte Hälfte des Brustkorbes bedeckten. Die stetigen Geräusche, der um das Bett angeordneten Maschinen, verstärkten den Eindruck, dass Sheppard nur dank ihnen am Leben erhalten wurde.

Widerstandslos ließ sich Rodney zu einem bereitstehenden Stuhl führen. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, nach der Hand des Colonels zu greifen, um sich zu überzeugen, dass die Geräte nicht logen und dieser tatsächlich noch am Leben war. Um die Schläuche der Infusionen nicht zu stören, entschied er sich dann doch dazu, sich in seinem Stuhl zurückzulehnen und Sheppard nur zu beobachten.

In den nächsten Tagen war Rodney kaum von Sheppards Bett wegzubekommen. Er gönnte sich nur wenige Stunden Schlaf, dann saß er wieder im Krankenzimmer. Ärzte und Schwestern – auch aus dem SGC – kamen und gingen, untersuchten Sheppard, betrachteten seine Werte, sprachen leise miteinander und konnten doch auch nicht viel mehr tun als zu warten.

Für die Zeiten, zu denen er nicht an seinem Laptop saß – was erstaunlich oft vorkam, da er nicht wirklich fähig war, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren -, hatte sich Rodney ein kleines Tischchen besorgt, auf dem er ein Schachbrett aufgebaut hatte. Auf diesem trug er heftige Schlachten zwischen Sheppard und ihm selbst aus, wobei er versuchte, möglichst wenig zu schummeln, wenn er Sheppards Züge machte. Während der Colonel noch immer unnatürlich still dalag und weiterhin mehr oder weniger von den Maschinen um ihn herum am Leben erhalten wurde, hatte McKay die ganze Zeit fast ohne Unterbrechung geredet.

„Verdammt, Sheppard“, schimpfte er bei einer Gelegenheit. „Ist Ihnen überhaupt klar, was Sie mir antun würden, wenn Sie an einer Kugel sterben würde, die für mich bestimmt gewesen war? Ich würde für den Rest meines Lebens von Psychiatern abhängig sein.“ Rodney zögerte einen Moment. „Nicht, dass ich nicht auch jetzt schon oft genug Grund habe, bei einem vorbeizugehen. Ich muss sagen, Kate ist wirklich verständig. Auch wenn Sie mir während unserer Sitzungen manchmal so gestresst und irgendwie genervt vorkommt. Vielleicht bräuchte sie auch mal einen Psychiater …“

„Elizabeth lässt Ihnen übrigens Grüße ausrichten“, erzählte er ein anderes Mal. „Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass sie es genießt, dass wir beide nicht in Atlantis sind. Sie erwähnte etwas von der ruhigsten Woche, die sie jemals in der Stadt erlebt hat. Ich glaube, sie hält uns für Unruhestifter. Oder zumindest glaubt sie, dass wir Ärger anziehen würden.“ Rodney senkte seine Stimme noch ein wenig mehr. „Aber mal ehrlich Sheppard, ich habe doch gar nichts damit zu tun. Das ist alles Ihre Schuld. Ich bin nur der arme Begleiter, der in Ihre Probleme immer mit hineingerät.“ Fast beiläufig fügte er noch hinzu: „Äh, bevor ich es vergesse, Teyla und Ronon senden natürlich auch noch ihre Grüße. Die beiden versprechen Ihnen, dass sie das Training mit Ihnen verstärken werden, sobald es Ihnen besser geht, damit Sie der nächsten Kugel vielleicht ausweichen können. Oder so was in der Art.“

Und dann gab es noch ein Gesprächsthema, das Rodney schon ein Weilchen auf dem Herzen gelegen hatte und das er eines Abends, als es im Zimmer fast dunkel war, anging. „Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, warum Sie hier liegen?“, fragte er schließlich. „Naja, warum ist ja offensichtlich, Schusswunde und so. Was ich meine, ist warum?“

„Maynard.“ Rodney sprach den Namen mit Verachtung aus. „Robert Maynard. Vor Jahren war der einmal ein vielversprechender Wissenschaftler gewesen. Während ich zur selben Zeit an meiner zweiten Doktorarbeit schrieb, habe ich nebenbei noch an einem Forschungsprojekt mit ihm zusammengearbeitet. Er war ein paar Jahre älter als ich und zuerst war ich richtig begeistert von ihm gewesen. Ein brillanter Kopf und wirklich innovativer Denker. Und das will immerhin etwas heißen, wenn es von mir kommt. Es war ein ziemlich harter Schlag für mich, als ich entdeckte, dass er seine Forschungsergebnisse gefälscht hatte, nur damit sie zu seinen Theorien passten.“ Noch im Nachhinein konnte Rodney nicht seine Verachtung darüber aus seiner Stimme heraushalten, das war mit seiner Auffassung von Wissenschaft einfach nicht vertretbar.

Wie er Sheppard dann auch erläuterte: „Ich weiß, dass ich meine Ideen manchmal auch recht rücksichtslos vorantreibe, doch ich habe ja auch meistens Recht. Und außerdem würde ich niemals so verantwortungslos vorgehen. Wenn andere Wissenschaftler auf diesen falschen Ergebnissen beruhende Forschungen machen und Experimente durchführen würden, kann leicht Unvorhergesehenes und damit möglicherweise auch Katastrophales geschehen. Ich musste ihn einfach melden. Das sehen Sie doch genauso, oder?“

Für einen Moment schwieg Rodney, dann fuhr er fort: „Danach war Maynard selbstverständlich ein Ausgestoßener und verlor seinen Job. Woher sollte ich denn wissen, dass ihn seine Frau zur selben Zeit ebenfalls verlassen und die gemeinsame Tochter mitnehmen würde?“, fragte McKay hilflos. „Aber wahrscheinlich hätte das trotzdem nichts an meiner Vorgehensweise geändert.“

„Es tut mir wirklich leid“, flüsterte er. „Also nicht, dass ich Maynard gemeldet habe, sondern dass Sie das Ganze jetzt ausbaden müssen. Die Polizei hat mir erzählt, dass er die beiden Möchtegernganoven irgendwo in einer Bar aufgegabelt und dafür bezahlt hat, bei der Präsentation aufzutauchen. Keiner weiß, was genau sein eigentlicher Plan gewesen ist, denn Maynard weigert sich zu reden. Alles was wir erfahren haben, stammt von seinen Handlangern. Selbst Mitchell und Teal’c haben es nicht geschafft, ihn während der Verhöre zu knacken. Wie versprochen hat Landry die beiden zusammen mit Carter geschickt, damit sie die Ermittlungen überwachen und sichergehen, dass es keinerlei Verbindungen zum Stargate Programm gibt.“

„Übrigens, noch jemand aus dem SGC ist hier. Dr. Lam hat jetzt Ihre Behandlung übernommen, Sheppard. Nicht, dass sie mit Carson mithalten könnte, aber immerhin ist sie kompetenter als die Idioten hier. Die Ärzte hier wollten mir doch tatsächlich weismachen, Sie wären so gut wie tot und da kaum Hoffnung bestünde, sollte ich mich von Ihnen verabschieden.“ Rodney hatte Mühe, das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten, weshalb er sich beeilte schnell weiterzureden: „Lieutenant Colonel John Sheppard sollte von einer winzigen Kugel besiegt worden sein, obwohl er doch zahlreiche Begegnungen mit den Wraith überlebt hat? Die haben ja keine Ahnung!“, redete sich McKay ein wenig in Rage. Wieder ruhiger fuhr er schließlich fort: „Trotzdem wäre es nett, wenn Sie es nicht ganz so spannend machen und endlich aufwachen würden.“

„Und dann ist da noch Carter. Können Sie glauben, dass Sie nur gekommen ist, um mir Gesellschaft zu leisten? Weil Ronon und Teyla nicht hier sein können.“ Rodney klang ehrlich erstaunt. „Sie ist richtig nett zu mir. Sie bringt mir Kaffee und regelmäßig etwas zu Essen. Und außerdem hält sie mir die verdammten Krankenschwestern vom Leib, wenn die mal wieder anfangen, was von Besuchszeiten zu faseln. Allerdings halte ich das mittlerweile eher für ein gutes Zeichen, da das impliziert, dass sie hier nicht mehr jeden Moment mit Ihrem Tod rechnen, Sheppard.“

Als Rodney die allgemeinen Gesprächsthemen schließlich ausgingen und es auch keine Neuigkeiten aus Atlantis mehr zu berichten gab, ging er dazu über, von seinen Projekten zu reden. Längst vergangene Sachen, auf die er noch immer unglaublich stolz war oder kommende Projekte, von denen er erwartete, dass ihm wenigstens eines den Nobelpreis einbringen dürfte, wenn das Stargate Programm endlich der Öffentlichkeit bekannt gemacht wird. Er wollte einfach nur sichergehen, dass wenn Sheppard schon nicht in einer vertrauten Umgebung war, er so doch wenigstens eine bekannte Stimme um sich hatte. Es hieß doch immer, dass Leute im Koma von vertrauten Dingen umgeben sein sollten. Oder?

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Die Welt um ihn herum schien nur aus Schmerzen zu bestehen.

Weder war es etwas wirklich Neues, noch überraschte es ihn.

Er nahm es einfach resigniert hin. Manche würden behaupten, er hätte aufgegeben, doch war aufgeben etwas, dass ihm nie bewusst in den Sinn kommen würde.

Er war schlicht müde, so unendlich müde.

Also ließ er sich treiben. Seinen Körper ignorierend, ohne Bindungen, ohne Verpflichtungen, einfach nur im Nichts. Schließlich spürte er, wie die Schmerzen nachließen. Doch gleichzeitig nahm die Schwärze um ihn herum zu.

Das Einzige, das ihn davon abhielt, sich völlig zu verlieren, war ein nagendes Gefühl in seinem Hinterkopf.

Etwas, das sein Bewusstsein wie mit einen Anker, an diese Ebene band.

Da ihm die Kraft fehlte, dagegen anzukämpfen, wartete er einfach ab.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch plötzlich wurden aus dem Gefühl, dass irgendetwas störte, die Gewissheit etwas zu hören. Eine Stimme, die ihn immer weiter zurückzog.

Nein!

Er war noch nicht bereit dazu!

Er wollte den Frieden hier weiter genießen … bitte, nur noch ein kleines bisschen … bitte …

***

Als Sheppard schließlich aufwachte, geschah das in Schüben. Mit jedem Mal nahm er mehr von seiner Umgebung war.

Hören kam als Erstes. Und damit auch die scheinbar immer anwesende Stimme, die ihm einfach keine Ruhe lassen wollte. Sie wurde der Strang, an dem er sich sprichwörtlich in die Wirklichkeit zurückhangelte. Noch wusste er nicht, wem sie gehörte, aber er assoziierte sie umgehend mit Sicherheit.

Als nächstes folgte der Geruch. Vertraut und doch so fremd. Antiseptisch, wie jedes Mal wenn er sich in der Krankenstation befand, und doch fehlte der Hauch der Meeresbrise, die fast immer durch die Zimmer von Atlantis ging, selbst wenn man sich tief in der Stadt befand.

Fühlen kam beinahe beiläufig. Irgendwann stellte er einfach fest, dass er den Stoff auf seiner Haut spüren konnte. Doch gleichzeitig war dieses Gefühl irgendwie vernebelt, so als ob … ja klar, man hatte ihm die guten Schmerzmittel verabreicht. Kein Wunder, dass er zwischendurch noch immer das Gefühl hatte in einer Wolke dahinzudriften.

Schmecken … Schmecken … Irgendetwas stimmte nicht. Sein Mund fühlte sich so voll an. Warum konnte er ihn nicht schließen? Und schlucken … Etwas füllte seine Kehle. Atmen … er konnte nicht atmen! In seiner Panik nahm Sheppard die zunehmenden Geräusche um ihn herum gar nicht wahr. Alles was ihn interessierte war der Versuch, Luft in seine Lungen zu bekommen.

Schließlich öffnete er seine Augen. Er musste sehen, was los war! Das Erste, was er wirklich bewusst registrierte, war ein über ihm hängendes Gesicht, mit unglaublich blauen Augen, die John irgendwie vertraut vorkamen. Gleichzeitig spürte er, wie die Hände, der zu dem Gesicht gehörenden Gestalt ihn daran hinderten, sich zu sehr zu bewegen. Doch anstatt sich eingeengt zu fühlen, war die Berührung ungemein beruhigend. Als er dann die Stimme registrierte, ergab auf einmal alles einen Sinn. Rodney, dachte John mit einem Lächeln.

„Shhh … ganz ruhig, John“, ließ er sich von Rodneys Worten beruhigen. „Sie sind noch an ein Beatmungsgerät angeschlossen, wehren Sie sich nicht dagegen.“

Mit der Erinnerung an die Erleichterung, die deutlich in Rodneys Augen zu lesen war, driftete John wieder in den Schlaf.

Beim nächsten Aufwachen, stellte Sheppard erleichtert fest, dass der Schlauch in seiner Kehle verschwunden war. Trotzdem gelang es ihm nicht wirklich, für längere Zeit die Augen offen zu halten. Das besserte sich im Verlauf der nächsten Tage aber allmählich, bis John schließlich länger wach war, als nur ein paar Minuten am Stück. Doch wann immer er aus dem Schlaf auftauchte, fand er Rodney neben seinem Bett sitzend.

Irgendwann schien Rodney dann der Meinung zu sein, dass es Sheppard gut genug für ein ernsthaftes Gespräch ging. Im Nachhinein, würde John amüsiert feststellen, dass jeder, der das Gespräch zufällig belauscht hätte, nichts damit würde anfangen können. Im Laufe der vergangenen Jahre hatten die beiden fast so etwas wie eine eigene Sprache entwickelt und die wirklich wichtigen Dinge wurden sozusagen im Subtext abgehandelt. Kein Wunder, dass sich immer alle wunderten, wie McKay und Sheppard überhaupt miteinander klarkommen konnten.

„So“, baute sich Rodney mit verschränkten Armen neben Johns Bett auf. „Wir müssen reden.“ Ich weiß, dass ich nicht gerade die fähigste Person im Bereich tiefgründiger Gespräche bin, aber das hier ist mir wichtig.

„Hm …“ Sheppard verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Muss das wirklich sein?

„Es geht wirklich nicht, dass Sie immer den Helden spielen müssen!“ Auch wenn ich Ihnen dafür dankbar bin, dass Sie mir das Leben gerettet haben, will ich nicht mit der Schuld leben müssen, dass Sie Ihr Leben für mich geopfert haben, sollte Sie das Glück einmal verlassen.

„Wer soll es denn sonst machen? Etwa Chuck?“ Wenn es sein muss, würde ich mein Leben für jedes Mitglied der Expedition ohne zu zögern hergeben. „Ich glaube lieber nicht.“ Tut mir leid, aber so bin ich nun einmal.

Diesmal war Rodney an der Reihe sein Gesicht zu verziehen. „Na, solange es nur nicht Kavanaugh ist.“ Vorher bin ich erst einmal wieder dran mit dem Leben retten.

„Urgh … was für eine Vorstellung!“ Wir werden sehen.

„Elizabeth sendet Grüße aus Atlantis.“ Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

„Danke.“ Wenn Sie meinen.

„Irgendwie sollte unser Ausflug auf die Erde ja doch ganz anders verlaufen.“Tut mir leid, dass ich Ihren Urlaub ruiniert habe.

„Ja, komisch wie das so kommen kann.“ Es war nicht Ihre Schuld. „Und McKay“, grinste John den Wissenschaftler möglichst unschuldig an. „Bei unserem nächsten Urlaub gehen wir aber surfen!“ Danke - für alles.

Rodney antwortete mit einem Schnauben. „Träumen Sie weiter, Colonel!“ Gern geschehen.

Beiden war bewusst, dass es noch ein Weilchen dauern würde, bis John die traumatischen physischen und psychischen Ereignisse der letzten Wochen endgültig verarbeitet hatte.

Aber erstaunlicherweise hatte diese ‚richtige’ Verletzung es geschafft, Johns Gedanken nachhaltig von seinen diffusen Schuldgefühlen und Unsicherheitsgefühlen gegenüber der Rettung durch den Wraith zu vermindern. Seine Antipathie gegen Berührungen war fast zwangsweise zurückgedrängt worden, denn hilflos im Krankenhaus zu liegen, ließ keinen Raum für solche Regungen zu.

Sheppard spürte Rodneys Sorgen in jedem Moment, in jedem der Worte, die der Wissenschaftler sprach – zumindest wenn er nicht gerade wieder über Alltäglichkeiten und Belanglosigkeiten meckerte – aber diese Sorge war jetzt auf seinen körperlichen Zustand und nicht seinen seelischen gerichtet und damit konnte John hundertmal besser umgehen.

Er war noch lange nicht über den Berg und mit Sicherheit würden ihn sowohl der Wraith als auch der Schuss noch lange in seinen Träumen heimsuchen. Doch ein Anfang war geschafft und sie schworen sich im Inneren beide, dass es von jetzt an nur noch vorwärts gehen würde. Manchmal vielleicht nur in kleinen Schritten, manchmal vielleicht auch scheinbar so gut wie gar nicht, aber immer beständig.

ENDE
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