Driving home for Christmas by Nefertit
Summary: Eine kleine schnulzige Geschichte über Weihnachten mit der Familie
Categories: Stargate SG-1 Characters: Major Davis
Genre: Friendship
Challenges: Keine
Series: Die Major Davis Chroniken
Chapters: 1 Completed: Ja Word count: 11622 Read: 2593 Published: 15.01.12 Updated: 15.01.12
Story Notes:
Disclaimer: Alle Charaktere und sämtliche Rechte an SG-1 gehören MGM/UA, World Gekko Corp. und Double Secret Production. Diese Fanfic wurde lediglich zum Spaß geschrieben und nicht um damit Geld zu verdienen. Jegliche Ähnlichkeiten zu lebenden und toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle weiteren Charaktere sind Eigentum des Autors.

1. Kapitel 1 by Nefertit

Kapitel 1 by Nefertit
I’m driving home for Christmas
Oh, I can’t wait to see those faces
Chris Rea




Paul stoppte sein Auto am Straßenrand vor dem Haus seiner Eltern und stellte den Motor ab. Die plötzliche Ruhe war angenehm nach der langen Fahrt, während der ihm das Motorengeräusch in den Ohren gedröhnt hatte. Es war kalt draußen und nun, da der Motor ausgeschaltet war, wurde es rasch kühl im Wagen, aber trotzdem stieg er noch nicht aus.

Stattdessen lehnte er den Kopf an die Lehne seines Sitzes und schloss die Augen. Er wollte sich ein paar Minuten Ruhe gönnen, bevor er sich dem Trubel, der ihn erwartete, sobald er über die Schwelle trat, aussetzte. Er brauchte ein paar Minuten Entspannung, bevor er sich ins Getümmel stürzte.

Ein heftiger Schlag aufs Autodach ließ ihn erschrocken auffahren. Einen Moment war er nicht sicher, was ihn da eben getroffen hatte, dann erschien ein grinsendes Gesicht im Beifahrerfenster und eine Stimme rief gutgelaunt durch das Glas:

„Kannst du mir mal verraten, warum du hier in der Dunkelheit hockst? Drinnen warten alle auf dich.“

Es war sein Bruder Sean, der Jüngste der 4 Davis-Geschwister.

Paul atmete einmal tief durch und ließ das Beifahrerfenster herunter. Es war typisch für Sean, ihn so zu erschrecken, aber er würde sich vermutlich nie daran gewöhnen.

„Damit ich deine blöden Sprüche ertragen muss, alter Kindskopf“, gab Paul zurück und fügte dann spottend an: „Du hat mich zu Tode erschreckt. Du kannst froh sein, dass ich keine Waffe bei mir hatte, ich hätte dich sonst vor Schreck glatt erschossen.“

Seans Grinsen vertiefte sich noch.

„Na, da hab’ ich aber Glück gehabt“, gab er ungerührt zurück und forderte Paul dann unmissverständlich auf: „Und jetzt beweg’ deinen Hintern ins Haus. Mom weigert sich, mit dem Essen anzufangen, bevor du nicht da bis und ich schieb’ langsam Kohldampf.“

Paul schnitt seinem Bruder eine Grimasse und ließ dann die Scheibe mit dem Fensterheber hoch, so dass Sean schnell das Gesicht zurückzog, damit er sich nicht die Nase im Autofenster einklemmte.

Bis Paul seine Jacke und sein Portemonnaie vom Beifahrersitz genommen hatte und den Kofferraum, in dem sich seine Reisetasche befand, entriegelt hatte, war Sean bereits um das Auto herum gegangen und öffnete seinem älteren Bruder die Autotüre. Paul stieg aus und die Brüder umarmten sich herzlich zur Begrüßung. Trotz des Altersunterschiedes verstanden die Beiden sich prächtig. Schon als Kind hatte Paul den 8 Jahre jüngeren Sean unter seine Fittiche genommen und sie waren unzertrennlich gewesen.

Sean trat einen Schritt zurück und musterte Paul von oben bis unten.

„Hast du zugenommen?“, fragte er in gutmütigem Spott und klopfte Paul mit der Hand gegen den Bauch.

Paul lachte und konterte, wobei er prüfend an Seans Kinn griff: „Und du? Musst du dich inzwischen rasieren?“

Sean lachte ebenfalls und Paul drehte sich noch immer grinsend zum Kofferraum um. Er öffnete die Heckklappe und griff seine Reisetasche, doch Sean nahm sie ihm eilig aus der Hand.

„Ich nehme die. Wir wollen doch nicht, dass du dich überanstrengst, alter Mann.“ Damit schulterte Sean die Tasche lässig und gab Paul einen gutmütigen Schubs in Richtung Haus. Paul schlug den Kofferraumdeckel zu und wandte sich dann gespielt drohend an seinen jüngeren Bruder:

„Pass bloß auf, du junges Gemüse!“, warnte Paul seinen jüngeren Bruder spielerisch. „Wenn du so weiter machst, leg’ ich dich übers Knie.“ Sean lachte.

„Na, das will ich sehen!“

Inzwischen hatte sie die Haustüre erreicht. Sean drehte den Türknopf, schob Paul durch die sich öffnende Türe und rief in Haus:

„Hey, Leute! Schaut mal, was ich auf der Straße gefunden habe!“ Damit ließ er Pauls Reisetasche im Flur auf den Boden fallen und ließ sie dort liegen.

Ein Kopf tauchte in der Türe auf, gefolgt von einem begeisterten Aufschrei. Im nächsten Moment stürzte sich eine 5-jährige auf ihn und sprang ihm aufgeregt in die Arme. „Onkel Paul!“

„Hallo Krümel!“, begrüßte Paul seine Nichte und hob das kleine blonde Mädchen auf seine Arme.

„Onkel Paul! Ich muss dir zeigen, was ich gemacht habe! Komm!“ Sie rutschte wieder von seinem Arm, packte seine Hand und versuchte ihn mit aller Kraft mit sich zu zerren. Paul hatte alle Mühe, sich dagegen zu stemmen.

„Gracie! Lass Paul doch erst mal reinkommen“, tadelte eine ruhige Stimme vom Esszimmer her und als Paul sich in die entsprechende Richtung wandte, sah er seine Mutter in der Tür stehen. Er entwand seine Hand dem Griff von Gracie, trat auf seine Mutter zu und umarmte sie. Laura Davis war eine zierliche, recht kleine Frau. Ihre beiden Söhne überragten sie um mindestens eine Kopflänge. Dem hochgeschlossenen Sean reichte sie gar nur knapp bis zur Schulter.

„Hallo Liebling. Schön, dass du da bist“, sagte Laura und drückte ihren Sohn an sich. Dann führte sie ihn ins Esszimmer, wo bereits der Tisch gedeckt war.

Pauls Vater, groß, grauhaarig, der an seinem Stammplatz am Kopfende des Tisches saß stand auf, als er seinen Sohn hereinkommen sah, trat auf ihn zu und die beiden Männer umarmten sich herzlich.

Neben dem Vater saß Pauls Schwester Diane, die älteste der vier Davis-Geschwister. Sie hatte hellbraunes Haar, das sie schulterlang trug und das inzwischen von ein paar grauen Strähnen durchzogen war. Auch sie erhob sich, als Paul hereinkam und begrüßte ihren jüngeren Bruder mit einer Umarmung.

„Du kommst spät. War auf den Straßen viel los?“, fragte sie dann. Paul nickte zur Antwort. Natürlich war auf den Straßen viel los gewesen. Es war ein paar Tage vor Weihnachten. Jeder war heute auf dem Weg zu seiner Familie, um die Feiertage mit ihnen zu verbringen.

Im selben Moment kam eine zierliche, dunkelhaarige und ausgesprochen hübsche junge Frau aus der Küche ins Esszimmer.

„Mom, die Kartoffeln sind jetzt wirklich durch“, sagte sie an Laura Davis gewandt. „Wir müssen sie rausnehmen, bevor sie völlig zerf…“ In dem Moment, in dem sie Paul sah, unterbrach sie sich und ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

„Hey - Schön, dass du da bist“, sagte sie zärtlich. Damit trat sie auf Paul zu und warf sich herzlich in Pauls ausgebreitete Arme. Paul drückte seine kleine Schwester herzlich an sich – und klein stimmte in diesem Fall doppelt, denn Patricia Davis war nicht nur 2 Jahre jünger als Paul, sondern auch einen ganzen Kopf kleiner als er.

Von seinen beiden Schwestern war Patricia ihm eindeutig die Liebere. Patricia sah nicht nur aus wie ein Engel, sie war auch einer. Sie war ein Muster an Güte und Freundlichkeit, sie nicht gern zu haben, war praktisch unmöglich. Während Paul mit Diane, dank ihrer spitzen Zunge, schon früher des Öfteren einmal mit Paul aneinander geraten war, war sein Verhältnis zu Patricia ausnehmend liebevoll und herzlich gewesen. Und dieses Verhältnis hatte sich bis zum heutigen Tag gehalten.

Patricia löste sich aus Pauls Umarmung, legte dann liebevoll einen Arm um ihn und betrachtete ihn ein paar Sekunden lang.

„Du siehst müde aus, großer Bruder“, stellte sie dann fest und schob Paul mit sanfter Gewalt zu seinem Platz neben dem Vater, gegenüber von Diane. „Setz dich. Mom und ich bringen gleich das Essen.“

Paul drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Stirn, tat aber dann widerspruchslos, was Patricia gesagt hatte, während sie in der Küche verschwand. Nur ein paar Augenblicke später kamen sie und Laura mit dem Essen zurück.

Laura Davis hatte Steaks vorbereitet, dazu jede Menge gebackener Kartoffeln, Sauerrahm und verschiedene Salate, die sie nacheinander herein trug. Wie sie es geschafft hatte, dass die Steaks auf die Minute fertig geworden waren, war wohl eines ihrer vielen, gut gehüteten hausfraulichen Geheimnisse.

„Hey! Großartig. Ich bin am verhungern!“ Mit diesen Worten platzte Sean ins Esszimmer, ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen und versuchte gleich mit seiner Gabel eines der größten Steaks aufzuspießen und auf seinen Teller zu ziehen.

„Sean!“, wies Laura ihren Sohn zurecht und entzog ihm gerade noch rechtzeitig die Platte mit den noch vor sich hinbrutzelnden Steaks. „Wirst du wohl warten, bis alle da sind?“ Dann wandte sie sich an Diane. „Wo sind dein Mann und die Kinder?“

Diane, die sich gerade auf ihrem Stuhl hatte niederlassen wollen, hielt mitten in der Bewegung inne und ging hinaus in den Flur. „John! Wir wollen essen!“, rief sie laut durch das Treppenhaus hinauf in den oberen Stock, wo sie ihren Mann und die beiden Kinder vermutete.

Im Esszimmer verzog Laura kurz das Gesicht und sagte dann, als Diane ins Esszimmer zurückkehrte: „Ich würde mir wünschen, dass du das nächste Mal nach oben gehst, anstatt quer durch das ganze Haus zu schreien.“

Patricia, die sich gerade auf dem Platz neben Paul nieder ließ, warf Paul einen verschwörerischen Blick zu und grinste dabei verhalten. Wie alle anderen, wussten auch die Beiden, dass „ich würde mir wünschen“ aus dem Mund von Laura Davis keineswegs einen Wunsch, sondern eine eindeutige Anweisung darstellte.

Diane verdrehte die Augen und wollte etwas erwidern, doch das Trampeln von Schritten auf der Treppe ließ ihr keine Gelegenheit.

Der neunjährige Matthew, genannt Matt, stürmte, gefolgt von seiner kleinen Schwester Gracie ins Esszimmer. Die Ermahnung „Langsam, Kinder!“ von ihrer Mutter drosselte ihr Tempo nur geringfügig. Beide kletterten auf ihren Stuhl, Gracie auf den Platz neben ihrer Mutter, Matt einen Platz weiter, wobei er Paul in betonter Lässigkeit einen Gruß über den Tisch zurief.

„Matthew! Würdest du bitte Deinen Onkel RICHTIG begrüßen?“, erklang eine Stimme von der Türe her. Paul wandte sich danach um. Dianes Mann John stand in der Türe und blickte seinen Sohn tadelnd an.

Der Junge rutschte von seinem Stuhl, trottete um den Tisch herum zu Paul und streckte ihm die Hand entgegen. „Guten Tag, Onkel Paul.“

Paul reichte dem Jungen kurz die Hand, wuschelte ihm dann mit den Fingern durch die Haare und antwortete: „Schon gut, Großer. Setz dich, dass wir essen können. Dein Onkel Sean verhungert gleich.“

Nachdem schließlich auch John seinen Schwager begrüßt hatte, nahm er seinen Platz ein. Laura kam mit einem Korb Brötchen aus der Küche, den sie auf den Tisch stellte, dann setzte sie sich ihrem Mann gegenüber ans andere Kopfende des Tisches.

„Schön, dass wir einmal wieder alle beisammen sind“, stellte sie dann nach einem langen Blick in die Runde fest.

„Ja. Leider lässt die nationale Sicherheit das selten mehr als einmal im Jahr zu“, ließ sich Diane von ihrem Platz halblaut vernehmen. Paul atmete einmal tief durch und überhörte die eindeutige Spitze in seine Richtung geflissentlich.

„Du bist unfair, Diane. Paul ist eben beruflich sehr eingespannt“, verteidigte Patricia ihren Bruder gleich leidenschaftlich. Paul legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm.

„Können wir das später diskutieren? Ich verhungere hier vor den vollen Tellern!“ beschwerte sich Sean in der darauf folgenden Pause in betont lockerem Tonfall. Paul warf ihm einen dankbaren Blick zu, dafür dass er von Dianes Bemerkung ablenkte. Er wusste, dass Sean das nur gesagt hatte, um einen Streit zu vermeiden.

„Sean hat Recht. Wir sollten endlich anfangen. Lasst es Euch schmecken.“ Auch Laura Davis hatte beschlossen, nicht auf die Bemerkung ihrer Ältesten einzugehen, was zur Folge hatte, dass Diane sich mit pikiertem Gesichtsausdruck dem Essen zuwandte.

Sean angelte sich gleich ein großes Steak von der Platte, lud seinen Teller mit Kartoffeln und Salaten voll und machte sich hungrig über alles her. So wie er das Essen in sich hineinschaufelte, konnte man glauben, dass er sich noch im Wachstum befände.

Diane sorgte erst einmal dafür, dass die beiden Kinder je eine kleine Portion bekamen, bevor sie sich selbst etwas zu Essen nahm, während ihr Mann John sich um sein eigenes Essen kümmerte. Patricia reichte in ihrer fürsorglichen Art sämtliche Platten und Schüsseln erst einmal an Paul weiter, bevor sie sich selbst etwas davon nahm und Laura und Richard warteten, bis alle anderen etwas zu essen hatten, ehe sie sich selbst bedienten.

Im Esszimmer breitete sich das aus, was Sean immer scherzhaft als „gefräßige Stille“ bezeichnete: außer dem Klappern des Bestecks auf den Tellern war kaum etwas zu hören.

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Nach dem Essen räumten Laura und ihre beiden Töchter gemeinsam den Tisch ab und meldeten sich freiwillig zum Abwasch. Paul, der sich ebenfalls erboten hatte zu helfen, wurde von allen Dreien aus der Küche komplementiert und mit Richard und Sean ins Wohnzimmer geschickt, wo bereits ein gemütliches Feuer im Kamin knisterte.

Pauls Schwager John brachte währenddessen die beiden Kinder ins Bett, denn es war inzwischen ziemlich spät geworden.

Im Wohnzimmer ließ sich Richard in seinem bereits etwas abgewetzten Lieblingssessel nieder, der schon im Wohnzimmer gestanden hatte, als Paul noch zu Hause gewohnt hatte. Paul und Sean nahmen auf den beiden Sofas Platz und Paul lehnte sich behaglich zurück und streckte die Beine von sich.

Er war müde von der langen, anstrengenden Fahrt und auch die letzten Wochen steckten ihm in den Knochen, denn wie jedes Jahr waren die letzten Wochen des Jahres im Pentagon besonders stressig gewesen. Inventuren hatten geprüft werden müssen, es hatte noch eine ganze Reihe von Bestellungen für das nächste Jahr gegeben, von denen einige auf das neue Jahr hatten verschoben werden müssen, weil das Budget für dieses Jahr ausgeschöpft war. Das übliche Chaos zum Jahresende. Paul kannte es zur Genüge aus vergangenen Jahren.

Entschlossen schob Paul die Gedanken an die Arbeit beiseite. Er hatte jetzt vier freie Tage vor sich und beabsichtigte diese in vollen Zügen zu genießen und keinen Gedanken an seine Arbeit zu verschwenden. Wenigstens an Weihnachten sollte ihm dieser Luxus vergönnt sein, fand er.

John kam aus dem oberen Stockwerk zurück, nachdem die Kinder endlich schliefen und setzte sich dazu. Die Männer unterhielten sich eine Weile und nachdem sie mit dem Abwasch fertig waren gesellten sich auch Laura, Diane und Patricia zu ihnen.

Sie unterhielten sich leise über ganz alltägliche Dinge. Über Johns Beförderung und seine und Dianes Pläne, in ein neues, größeres Haus zu ziehen, über Patricias Arbeit in der Anwaltskanzlei, über Seans Studium, das er dieses Frühjahr abschließen würde und über die Familienmitglieder, die nicht hier waren – Tanten und Onkels, Cousins und Cousinen, die mit ihren eigenen Familien feierten.

Diane erzählte von der Weihnachtsfeier der Kinder in der Vor- und Grundschule vor ein paar Tagen. Gracies Kindergarten-Klasse hatte Weihnachtslieder aufgeführt und Gracie hatte mit ein paar anderen Kindern zusammen die dritte Strophe von „Up on the Housetop“ gesungen und Matt war im Krippenspiel der 4. Klasse einer der heiligen drei Könige gewesen.

Diane berichtete von ihrer Mühe, ihrem Sohn ein standesgemäßes Königsgewand mit einer Krone zu nähen und zu basteln, das sowohl Matts als auch ihren eigenen Ansprüchen genügt hatte. Und erntete dafür von den anderen sowohl gutmütigen Spott als auch Mitleid.

Unwillkürlich glitten Pauls Gedanken zurück zu den beiden Malen, als er mit seiner Frau Susan das Weihnachtsfest hier verbracht hatte. Susan war es schwer gefallen, sich in die Familie zu integrieren – wenn er ehrlich war, hatte sie sich nie wirklich Mühe gegeben, sich zu integrieren. Sie hatte sich lieber ins Gästezimmer zurückgezogen – in Pauls ehemaligem Kinderzimmer hatte sie partout nicht schlafen wollen – und hatte sich in die Romane vertieft, die sie mitgeschleppt hatte, während die anderen unten ihre Zeit zusammen verbrachten.

Paul war hin und her gerissen gewesen zwischen dem Wunsch, die knappe Zeit bei seiner Familie auch mit ihnen zu verbringen und dem Wunsch, Susan nicht zu verärgern, was zur Folge gehabt hatte, dass er nach den Feiertagen fast weniger erholt gewesen war, als davor.

Mehrmals war Susan auch mit Diane aneinander geraten. Diane war die Einzige, die es gewagt hatte, auszusprechen, dass ihr die Art missfiel, in der sich Susan vom Rest der Familie abgrenzte und das hätte beinahe zu einem handfesten Streit geführt. Selbst mit Patricia hatte Susan sich nie wirklich gut verstanden.

Im dritten Jahr ihrer Ehe hatte Paul Susans Wunsch nachgegeben, alleine in Washington zu feiern, denn ihrer eigenen Familie hatte Susan auch nie nahe gestanden.

Im Jahr darauf war Paul zu Weihnachten wieder hier gewesen - ohne Susan. Sie hatte ihn im Sommer wegen eines anderen Mann verlassen.

Seine Familie war damals der einzige Rückhalt, den er gehabt hatte und er war sicher, dass er die Zeit damals ohne sie alle nicht überstanden hätte. Sie hatten ihm nie übel genommen, dass er in diesem einen Jahr den Wunsch seiner Frau über die Familie gestellt hatte und in Washington geblieben war.

Jetzt im Nachhinein war ihm klar geworden, dass es mit ihm und Susan einfach nicht hatte gut gehen können. Sie waren einfach viel zu unterschiedlich gewesen. Dass Susan sich nicht mit seiner Familie verstanden hatte, war nur ein Symptom gewesen.

Sie hatten Glück, dass John sich so gut in die Familie integriert hatte und Paul fragte sich, ob Patricias Freund Michael – sollten die beiden zusammen bleiben – sich ebenso mühelos eingliedern würde wie John.

„Wir werden schlafen gehen“, verkündete Diane plötzlich und riss Paul damit aus seinen Überlegungen. „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin todmüde.“

„Wir bleiben noch ein wenig, aber geht ruhig“, antwortete Laura. John und Diane erhoben sich, wünschten Allen eine gute Nacht und gingen dann nach oben.

Als die beiden gegangen waren, nahm der Rest der Familie die Unterhaltung nicht gleich wieder auf und so kehrte für ein paar Minuten gemütliche Stille ein. Selbst Sean hatte nicht das Bedürfnis, alberne Witze zu reißen. Die einzigen Geräusche im Zimmer waren das leise Knistern des Feuers im Kamin und das langsame Ticken der großen Wanduhr.

Schließlich beschloss Paul, auch ins Bett zu gehen. Er war müde und sehnte sich nach einem warmen Bett und ein paar Stunden Schlaf. Also wünschte auch er dem Rest der Familie eine gute Nacht und ging dann die Treppe hinauf in sein altes Zimmer.

Als er die Türe öffnete, musste er unwillkürlich lächeln. Alles sah immer noch genauso aus wie damals, als er seinen Koffer gepackt hatte und an die Akademie gegangen war. Zwar hatte er den Inhalt der meisten Schränke mitgenommen, als er nach Washington gezogen war, doch das ein oder andere Stück aus seiner Kindheit fand sich noch immer hier.

Ein paar Jugendbücher, die noch im Bücherregal standen, das Modell einer F14 Tomcat hing an fast unsichtbaren Nylonfäden von der Decke und ein angefangenes, aber nie vollendetes Modellschiff stand hinter der Glasscheibe eines Schaukastens, der an der Wand hing.

Pauls Tasche lag bereits am Fußende des Bettes – vermutlich hatte Sean sie vorhin schon nach oben gebracht, so dass Paul sich nur noch umzuziehen und ins Bett zu gehen brauchte.

Er wusch sich im angrenzenden Bad, das die beiden Zimmer von Paul und Sean sich teilten, und putzte sich schnell die Zähne, dann kroch er in das frisch bezogene Bett und schlief fast augenblicklich ein.

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Als Paul am anderen Morgen aufwachte, war es bereits sehr spät. Ein Blick auf den Wecker auf dem Nachtschränkchen verriet ihm, dass es bereits nach zehn Uhr war. Er wunderte sich ein wenig, dass ihn niemand geweckt hatte, ahnte aber, dass er es seiner Mutter zu verdanken hatte, dass er seit langer Zeit einmal wieder hatte ausschlafen können.

Er räkelte sich genüsslich unter der warmen Decke und blieb noch ein paar Minuten liegen, während er den gedämpften Geräuschen, die aus dem unteren Stockwerk und dem Garten zu ihm herauf drangen, lauschte. Die Kinder spielten offensichtlich draußen und so wie es klang, war Sean, der alte Kindskopf, wieder einmal mittendrin. Er würde vermutlich niemals erwachsen werden.

Paul schmunzelte, schlug aber schließlich die Bettdecke zurück und stand auf. Als er die Vorhänge an seinem Fenster zurückzog, sah er, dass es in der Nacht geschneit hatte – und das offenbar nicht wenig, denn der Rasen und die Dächer waren alle mit einer dicken weißen Schicht überzogen. Inzwischen hatten sich die Wolken verzogen und ein klarer, blauer Himmel wölbte sich über der weißen Pracht.

Paul genehmigte sich eine ausgiebige Dusche, bevor er in ein paar Jeans und ein bequemes Sweatshirt schlüpfte und dann auf Socken ins untere Stockwerk ging.

Ein Blick durch das Wohnzimmerfenster bestätigte ihm, was er schon vermutet hatte, Sean tollte mit Matt und Gracie im Garten durch den Schnee. Richard saß in eine warme Jacke gehüllt auf der Terrasse und schaute ihnen zu, während Diane und John in der Nähe standen und beide eine Zigarette rauchte. Warum die Beiden das Rauchen – obwohl sie zwei Kinder hatten – bis heute nicht aufgegeben hatte, entzog sich Pauls Kenntnis, er wusste nur, dass es wenig Sinn hatte, die Beiden darauf anzusprechen. Diane war ein Sturkopf und ließ sich grundsätzlich von niemanden etwas sagen.

In der Küche fand Paul seine Schwester Patricia, die über die Arbeitsplatte gebeugt an irgendetwas herumwerkelte. Als sie seine Schritte auf dem Fußboden hörte, wandte sie sich zu ihm um.

„Guten Morgen, Schlafmütze!“, begrüßte sie ihn lächelnd und wusch sich schnell die Hände in der Spüle. „Ausgeschlafen?“

Paul nickte zur Antwort.

„Du möchtest bestimmt was frühstücken, richtig?“, fragte Patricia gutmütig und nahm ohne Pauls Antwort abzuwarten einen Teller und einen Kaffeebecher aus dem Küchenschrank. Beides stelle sie auf die Theke zwischen Küche und der gemütlichen Frühstücksecke.

„Setz dich!“, forderte sie ihn schmunzelnd auf, als Paul nach ein paar Augenblicken noch immer unschlüssig in der Küche stand. „Eier und Speck, oder willst du was anderes?“, fragte sie und nahm ein paar Eier und eine Packung Speckstreifen aus dem Kühlschrank.

„Du brauchst mir das Frühstück nicht zu machen. Das kann ich selber“, sagte Paul schließlich, ging zu Patricia und versuchte ihr die Pfanne, die sie gerade vom Haken an der Wand genommen hatte, aus der Hand zu nehmen. Patricia schlug ihm spielerisch auf die Finger.

„Unsinn. Setz dich hin und lass mich machen“, erwiderte sie und schob ihn energisch aus der Küche. „Für Michael mache ich schließlich auch Frühstück.“

„Er ist ja auch dein Freund“, bemerkte Paul grinsend.

„Und du bist mein Bruder. Also setz dich endlich“, beharrte Patricia, so dass Paul schließlich nachgab. Während sie den Gasherd einschaltete und die Pfanne auf die Flamme stellt, um ein Stück Butter darin zu zerlassen, ließ sich Paul auf einem der Barhocker an der Frühstückstheke nieder.

„Wie läuft es mit dir und Michael?“, fragte er dann. Patricia war seit knapp einem Jahr mit dem jungen Rechtsanwalt aus Chicago, wo auch Patricia inzwischen lebte, zusammen und soweit Paul das beurteilen konnte, schien es sich dieses Mal tatsächlich um etwas Ernstes zu handeln.

„Gut - denke ich. Er will mich nächste Woche mit zu seinen Eltern nehmen“, erzählte Patricia, während sie zwei Eier in die Pfanne schlug und kräftig durchrührte. Paul bemerkte, dass sie vor Aufregung rote Wangen bekam und musste unwillkürlich lächeln.

„Das klingt nach einem ziemlich großen Schritt“, sagte er schließlich. Patricia nickte nachdenklich.

„Ja, das ist es wohl“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Paul. Sie gab ein paar Scheiben Speck in die Pfanne und briet sie kurz an, bis sie knusprig waren und kam dann mitsamt der Pfanne zu Paul an den Tresen. Sie lud die gesamte Portion Eier und Speck auf Pauls Teller und reichte Paul die beiden Scheiben Toast, die sie dazu getoastet hatte. Dann goss sie ihm Kaffee aus einer Thermoskanne in die Tasse und holte auch noch die Milch für ihn aus dem Kühlschrank.

„Hast du Angst?“, fragte Paul dann. Eine Weile blickte Patricia nachdenklich an ihm vorbei, doch dann nickte sie.

„Ja. Was, wenn sie mich nicht ausstehen können?“

Unwillkürlich lachte Paul laut auf. Das war nun wirklich das Unwahrscheinlichste überhaupt.

„Als ob irgend jemand dich nicht mögen würde“, sagte er überzeugt.

Im selben Moment flog die Küchentüre auf und sowohl Paul als auch Patricia zuckten vor Schreck sichtlich zusammen. Dann stürmten zwei – nein eigentlich drei - Kinder herein, eine nasse Spur geschmolzenen Schnee, der langsam von ihren Schuhen abfiel, hinter sich her ziehend.

„Onkel Paul! Sean hat mit uns einen Schneemann gebaut!“, verkündete Gracie voller Begeisterung und in einer Lautstärke, die ihresgleichen suchte.

„Tatsächlich?“, fragte Paul und versuchte vergeblich, seine Hand aus dem Griff der Fünfjährigen zu befreien, die mit aller Kraft versuchte, ihn von seinem Stuhl zu zerren – offenbar ihre Methode, ihm mitzuteilen, dass er sich das Kunstwerk anschauen sollte.

„Ja, ein wahres Meisterwerk von Schneemann!“, stimmte Sean von der Türe her zu und grinste.

„Kindskopf!“, schalt Patricia ihn in gutmütigem Spott und wandte sich dann an Gracie: „Gracie! Um Himmels Willen, würdest du Paul bitte frühstücken lassen!“

Paul war es inzwischen gelungen seinen Arm frei zu bekommen und wich dem neuerlichen Versuch von Gracie seine Hand zu packen schnell genug aus.

„Aber er muss sich den Schneemann anschauen!“, quengelte die Kleine sogleich den Tränen nahe. Ihre Launen konnten manchmal so schnell umschlagen, wie das Wetter im April.

„Wenn er mit uns aufgestanden wäre, wäre er jetzt schon fertig“, frotzelte Sean von der Küchentüre her und fing sich im nächsten Moment einen gutmütigen Klaps auf den Hinterkopf von seiner Mutter ein, die unbemerkt von der lärmenden Gruppe in die Küche gekommen war.

„Dein Bruder hatte gestern einen weiten Weg. Also hör auf mit den Sprüchen“, schalt sie Sean in liebevollem Ton, jedoch wusste jeder, dass sie es durchaus ernst meinte. Dann sah Laura Davis sich in ihrer Küche um und bemerkte die Schneespuren auf dem Fliesenboden.

„So, und nun macht, dass ihr wieder nach draußen kommt, mit euren Matsch-Schuhen, bevor ihr mir hier noch alles dreckig macht. Ich bin sicher, euer Onkel Paul kommt nach draußen, sobald er mit Essen fertig ist.“ Damit scheuchte sie die beiden Kinder, samt ihres jüngsten Sohnes gutgelaunt wieder nach draußen.

„Worauf ihr wetten könnt!“, rief Paul den dreien hinterher und schob sich schmunzelnd eine Gabel voll Rührei in den Mund.

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Nachdem Paul ausgiebig gefrühstückt hatte, ging er schnell seine warmen Winterstiefel und eine dicke Jacke anziehen, bevor er pflichtschuldig nach draußen in den weitläufigen Garten ging, um den Schneemann zu begutachten.

Es war jedes Jahr das Selbe – man konnte schon fast sagen, dass es sich inzwischen um eine Art Tradition handelte. Seit Matt alt genug war, um zwei Hände voll Schnee zu einer Kugel zusammen zu pappen, bauten er und Sean alljährlich einen Schneemann im Garten – seit Gracie alt genug war, war auch sie jedes Mal mit von der Partie und ganz genau konnte niemand sagen, wer mehr Spaß daran hatte – die Kinder oder Sean.

Jeder der Schneemänner war säuberlich mit der Kamera dokumentiert worden und die Fotos fanden jedes Jahr nach den Feiertagen den Weg in ein eigens dafür angelegtes Fotoalbum, das Sean in seinem alten Kinderzimmer verwahrte und dass die beiden Kinder jedes Jahr herausholten und durchblätterten, um dann zu versuchen, sich mit dem nächsten Schneemann selbst zu übertreffen.

Als Paul die Türe zur Terrasse öffnete, schlug ihm sofort die klirrende Kälte des Dezembermorgens entgegen. Er zog den Reißverschluss seiner dicken, blauen Winterjacke bis unter das Kinn, schloss den Kragen, zog seine Handschuhe an und setzte die schwarze Mütze, die er sicherheitshalber mitgebracht hatte, auf.

Er war kaum zur Türe draußen, da traf ihn schon ein Schneeball mitten in die Brust. Der Schneeball war mit solcher Kraft geworfen worden, dass ihm die Wucht des Aufpralls die Luft aus den Lungen presste und er einen überraschten Laut von sich gab.

Mit der Hand rieb er kurz über die schmerzende Stelle, wo der Schneeball ihn getroffen hatte und blickte sich suchend im Garten um.

Außer dem riesigen Schneemann, der mit einem Baseballschläger in der „Hand“ und mit einer Baseballkappe und einem Schal der Toledo Mud Huts ausstaffiert dastand und grinste, war der Garten augenscheinlich leer. Aber eine Bewegung hinter einem Strauch verriet den Angreifer, der mit seiner schwarzen Jacke gut getarnt war vor dem dunklen Hintergrund, vor dem er sich bewegte.

Paul war gerade im Begriff sich zu bücken, um selbst einen Schneeball zu formen, als Patricia hinter ihm aus dem Haus trat.

„Paul, ich wollte dich fragen ob…“ Der Rest ihrer Frage ging in einem erschrockenen Aufschrei unter, als sie von einem Schneeball am Arm getroffen wurde. Der Schneeball war offensichtlich von einem der Kinder geworfen worden, denn ihm fehlte die Wucht, mit der Seans Geschoß Paul getroffen hatte.

Als Paul sich umblickte, sah er die Spitze einer rosafarbenen Mütze hinter der kleinen steinernen Gartenbank hervorlugen und hörte von dort ein unterdrücktes Kichern, tat jedoch, als hätte er beides nicht bemerkt.

„Ich fürchte wir sind umzingelt, Lieutenant“, raunte er Patricia zu – laut genug, dass auch Sean und die Kinder es hören konnte. Patricia stieg sofort in das Spiel ein.

„Was sollen wir jetzt tun, Major?“, fragte sie gespielt verängstigt und überhörte geflissentlich das laute werdende Gekicher von Gracie, das von einem empörten „Pssst!“ von Matt beendet wurde, der sich offenbar auch hinter der Gartenbank versteckte.

„Holen Sie Ihre Ausrüstung, Lieutenant. Ich fürchte, wir müssen uns den Weg freischießen. Ich halte hier solange die Stellung“, sagte Paul mit einem Augenzwinkern. Patricia salutierte.

„Aye, aye, Sir!“, sagte sie grinsend, verschwand wieder im Inneren des Hauses und kehrte nach weniger als zwei Minuten in ihre warme Daunenjacke gehüllt mit Handschuhen und ihren warmen Winterstiefeln zurück.

„Fertig?“, fragte Paul an Patricia gewandt, während er mit den Händen einen Schneeball formte und zu den anderen Schneebällen legte, die er in Patricias Abwesenheit vorbereitet hatte.

„Munition“, erklärte er mit einem spitzbübischen Grinsen, als er Patricias fragenden Blick auf die Schneebälle sah. In diesem Moment klatschte Paul ein Klumpen Schnee an die Schulter. Der Schnee stob auseinander und verteilte sich über Pauls Gesicht und drang in seinen Kragen ein.

„Deckung!!!!“, konnte Paul seiner Schwester gerade noch zurufen, bevor der nächste Schneeball ihn traf. Er schnappte sich einen seiner vorbereiteten Schneebälle und feuerte ihn mit aller Kraft auf Sean, der gerade seine Deckung hinter dem Strauch verlassen hatte, um seinerseits auf Paul zu schießen.

Pauls Schneeball traf Sean mitten in die Brust und Sean stieß ein ärgerliches „AUA!“ aus, bevor er ausholte und zurück schoss, doch Paul konnte dem Ball ausweichen, indem er sich der Länge nach in den Schnee warf.

Patricia hatte unterdessen hinter dem Gartentisch Deckung gesucht, während sie gleichzeitig versuchte, sich der Schneeball-Attacken der beiden Kinder zu erwehren.

Ein Schneeball von Sean traf sie dabei am Rücken und sie sprang aus der Deckung hervor, um nun ebenfalls ihren jüngeren Bruder anzugreifen. Auch Sean und die Kinder gaben jetzt ihre Deckung auf und kamen hervor, um Paul und Patricia zu bewerfen.

Matt und Gracie kreischten begeistert, während sie sich Schneebälle werfend in Richtung Paul vorarbeiteten – wobei Schneebälle zuviel gesagt war, es waren eigentlich nur noch lose zusammen gepappte Schneeklumpen, von denen die Hälfte schon im Flug auseinander brach.

„Schnappt euch den Anführer!!! Ich kümmere mich um den Lieutenant!“, rief Sean den Kindern zu und stürzte sich mit einem großen Schneeklumpen in der Hand in Richtung seiner Schwester. Patricia sah es und trat mit einem lauten, ausgesprochen mädchenhaften Kreischen die Flucht ins Haus an.

„Hey! Das ist Fahnenflucht! Dafür kommst du vors Kriegsge…“, rief Paul ihr noch hinterher, dann traf ihn ein Haufen Schnee mitten ins Gesicht und Gracie stürzte sich mit einem lauten Jubelschrei auf ihn.

Paul wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und packte dann das Mädchen und warf sie neben sich in den Schnee. Gracie kreischte und strampelte und ihr Bruder stürzte sich mit einem weiteren Schneeball auf Paul. Dem gelang es schließlich, auch Matt zu packen und ihn ebenfalls in den Schnee zu werfen.

Gemeinsam mit den Kindern wälzte er sich im Schnee, der in seine Ärmel und seinen Kragen eindrang und der langsam aber sicher seine Jeans durchweichte, aber das war ihm egal.

Irgendwann war er so außer Atem, dass er schließlich schwer atmend im Schnee liegen blieb, Arme und Beine von sich gereckt und sich nicht mehr rührte. Er spürte, wie Gracie an seinem Arm zerrte und hörte sie fordernd sagen: „Nochmal!“

Paul lachte.

„Ich kann nicht mehr, Krümel. Tut mir Leid“, antwortete er schnaufend.

„Jaja, die Ausdauer lässt im Alter eben etwas nach, was?“ Als Paul die Augen öffnete, blickte er in das Gesicht von Sean, der sich grinsend über seinen Bruder beugte.

„Klopf hier keine Sprüche, hilf mir lieber hoch“, erwiderte Paul und streckte Sean die Hand hin. Sean ergriff sie und versuchte Paul aufzuhelfen, aber Paul war schneller und riss Sean mit einem Ruck von den Beinen, so dass er neben ihm im Schnee landete.

„Hey! Na warte, das zahl ich dir zurück!“, drohte Sean und packte mit beiden Händen Schnee und drohte sich damit auf Paul zu stürzen. Lachend hob Paul die Hände.

„Gnade, bitte. Ich ergebe mich.“ Er setzte sich auf und sah die beiden Kinder an, die wie er selbst über und über mit Schnee bedeckt waren.

„Wir sollten sie nach drinnen schaffen, bevor sie sich erkälten“, sagte Paul an Sean gewandt und der nickte. Gemeinsam überzeugten sie die protestierenden Kinder, dass es Zeit war, wieder ins Haus zu gehen.

„Gütiger Himmel, was ist denn mit euch passiert?!“, rief Laura Davis entsetzt aus, als sie vier Schneegestalten hereinkommen sah.

„Onkel Paul und Sean haben eine Schneeballschlacht mit uns gemacht!“, verkündete Gracie begeistert. Ihre Wangen leuchteten rosig und ihre Nase war von der Kälte ganz rot.

„Ja, so seht ihr auch aus“, stellte Diane, die in dem Moment dazu trat, fest. „Na kommt, Kinder. Ich stecke euch erst mal in die Wanne, um euch aufzutauen.“ Damit schob sie Matt und Gracie die Treppe hinauf.

„Und ihr beide könnt sicher auch eine heiße Dusche vertragen!“, wandte sich Laura Davis zwinkernd an ihre beiden Söhne. „Verschwindet schon. In einer Stunde gibt es Mittagessen.“

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Nach dem gemeinsamen Mittagessen, das genauso laut und gutgelaunt verlief wie das Abendessen am Vorabend, gingen Diane und John mit den Kindern ins Einkaufszentrum, wo bis zum späten Nachmittag ein Weihnachtsmann in seiner künstlichen Winterlandschaft sitzen und die Wünsche der Kinder entgegennehmen würde.

Da heute Samstag war, waren die Geschäfte ganz normal geöffnet auch wenn Büros und Firmen bereits seit gestern geschlossen waren.

Richard Davis hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen, um den Weihnachtsbaum aufzustellen, der später geschmückt werden sollte – eine Tätigkeit, bei der er sich von seinem Sohn Sean assistieren ließ. Währenddessen waren Laura Davis und Patricia in der Küche damit beschäftigt, Plätzchen zu backen.

Paul war von seinem Vater und Sean aus dem Wohnzimmer gejagt worden, als er versucht hatte, den Beiden zu helfen, nun ging er in die Küche auf der Suche nach dem Rest der Familie.

„Hey, wusste ich doch, dass ich richtig rieche“, sagte er und versuchte eines der Plätzchen, die zum Abkühlen auf einem Kuchengitter lagen, zu stibitzen. Patricia gab ihm mit ihren mehlverschmierten Fingern einen leichten Klaps auf die Hand.

„Na, willst du wohl warten bis sie fertig sind?“ tadelte sie ihn spielerisch.

„Finger weg, das werden doppelte - die sind alle abgezählt“, ließ sich Laura Davis vernehmen. „Wenn du möchtest, kannst du schon mal die Kartons mit dem Baumschmuck ins Wohnzimmer schaffen“, fügte sie dann hinzu und deutete auf zwei braune Pappkartons, die auf dem Küchentisch standen.

Paul griff nach dem ersten Karton, konnte es dann aber doch nicht lassen zuerst neugierig hineinzuschauen. Er öffnete den ersten Karton und sah hinein. Drinnen lagen kleine Schachteln voller Glaskugeln in allen Größen.

Der Weihnachtsbaum seiner Familie war immer schon ein besonderes Schmuckstück gewesen. Laura Davis hatte es immer verstanden, die Farben des Weihnachtsschmuckes so aufeinander abzustimmen, dass der Baum nicht zu grellbunt erschien.

Nachdem er sämtliche Glaskugeln ausgepackt hatte, wandte er sich dem anderen Karton zu. Im Inneren fand er neben Lichterketten und Bergen von Lametta fein säuberlich eingepackt, mit Holzwolle ausgelegt, dass dem wertvollen Inhalt nichts passierte, auch eine Schachtel mit kleinen Weihnachtsbaum-Anhängern aus gebranntem Ton. Sie waren bunt bemalt – in Form von kleinen Schaukelpferden, Schlitten, Weihnachtsmännern und Rentieren – kleine Kunstwerke, die die vier Davis-Kinder im Laufe ihrer Kindheit hergestellt und den Eltern geschenkt hatten.

„Oh mein Gott“, entfuhr es Paul beim Anblick der vielen kleinen Figürchen und er nahm behutsam ein paar davon heraus. Es war deutlich zu erkennen, welcher Anhänger von wem einst gefertigt worden war.

Dianes waren kleine Meisterwerke, perfekt in Form und Farbgebung, jedes Detail sorgfältig herausgearbeitet, Pauls, ein wenig ungeschickt bemalt, aber liebevoll gemacht – er hatte nie das künstlerische Talent seiner Schwester besessen. Patricias, zart bemalt mit kleinen, feinen Details und Seans – Seans liefen außer Konkurrenz – das war schon immer so gewesen. Sean, der Wildfang, hatte nie einen Sinn oder ein Talent für derartiges Handwerk besessen, hatte Rentiere grün und Weihnachtsmänner blau bemalt, wie es ihm gerade eingefallen war.

„Ich wusste nicht, dass du die alle aufbewahrt hast, Mom!“, stellte Paul erstaunt fest und hielt einige der Anhänger hoch, als seine Mutter sich zu ihm umdrehte, um zu sehen, wovon er sprach.

„Aber natürlich habe ich das. Jedes einzelne. Und mir ist nie auch nur ein Einziges kaputt gegangen“, antwortete sie stolz.

„Ach du meine Güte!“, rief nun auch Patricia aus, als sie Pauls Entdeckung sah. Sie säuberte schnell ihre mehl- und teigverschmierten Hände und gesellte sich dann zu ihrem Bruder.

„Sollen wir sie dieses Jahr mal wieder aufhängen?“, fragte sie schließlich, als ihr ein kleines, von ihr bemaltes Schaukelpferd in die Hände fiel. Paul musste bei der Vorstellung schmunzeln, nickte jedoch begeistert.

In dem Moment betrat Sean die Küche.

„Es ist vollbracht! Der Baum steht!“, verkündete er theatralisch mit stolzgeschwellter Brust. Einen Augenblick darauf entdeckte er, was Paul und Patricia gefunden hatten und trat zu ihnen.

„Oh Mann – ein grünes Rentier“, flachste er. „Welches seltsame Kind hat DAS denn verbrochen?“

„Wir haben gerade beschlossen, dass wir damit dieses Jahr den Baum schmücken“, informierte Patricia ihn. Sean machte ein beleidigtes Gesicht.

„Ja, ja, ihr braucht ja auch keine Angst haben, dass die anderen Kinder sich über euch lustig machen, weil ihr euch etwas künstlerische Freiheit in der Farbgestaltung genommen habt“, beschwerte sich Sean. „Schaut euch Patricias Werk an.“ Damit nahm er Patricia ihr Rentier aus der Hand. „Hier – ein perfektes, kleines Rentierchen, mit braunem Fell, schwarzen Hufen und einer roten Nase. Und hier, die kleinen Knopfaugen – sogar richtige WIMPERN hat Rudolph!“, neckte er Patricia und klimperte dabei albern mit den eigenen Wimpern.

Paul lachte verhalten und Patricia schlug Sean mit der flachen Hand spielerisch auf den Arm.

„Blödmann “, schimpfte sie liebevoll und nahm ihm dann beide Rentiere weg und legte sie vorsichtig zurück in die Schachtel.

„Naja, eigentlich wollte ich euch auch bloß sagen, dass der Baum steht und dass Dad und ich jetzt den Vorgarten schmücken gehen“, erklärte Sean schließlich an seine Mutter gewandt.

„Na, dann mach dass du endlich nach draußen kommst!“, scheuchte diese ihn in gespieltem Ärger hinaus und rief ihm dann noch hinterher: „Und sieh zu, dass dein Vater nicht wieder auf der Leiter herumklettert! Du weißt, er soll vorsichtig sein mit seinem Rücken!“

„Na gut, dann werden Paul und ich mal den Baum schmücken. Ist das in Ordnung?“, fragte Patricia ihre Mutter. Laura Davis nickte zur Antwort.

„Natürlich. Die Kekse mache ich alleine fertig. Und wenn ich Hilfe brauche, rufe ich.“

Paul und Patricia packten den Weihnachtsschmuck wieder zusammen und schleppten ihn hinüber ins angrenzende Wohnzimmer.

Den Baum hatten Sean und Richard in der Zimmerecke aufgestellt, in der sonst immer das Blumentischchen mit Laura Davis’ heißgeliebten Orchideen stand. Diese wiederum hatten traditionell schon vor ein paar Tagen an ein Fenster im Elternschlafzimmer im oberen Stock umziehen müssen.

Der Weihnachtsbaum selbst war ziemlich groß, reichte bis beinahe unter die Zimmerdecke und seine Äste waren ausladend und von sattem Grün. Es war ein schöner Baum, wie in jedem Jahr.

„Wir fangen mit der Lichterkette an“, beschloss Patricia und kletterte auf eine kleine Trittleiter, die Sean offenbar schon vorsorglich vom Dachboden geholt hatte. Paul kramte in einem der Kartons und förderte eine ellenlange Lichterkette mit gut 100 kleinen, elektrischen Kerzen daran. Zwar waren echte Kerzen um ein vielfaches schöner, aber die hatte es in diesem Haushalt nur zwei Jahre lang gegeben, als Sean bereits ein Teenager gewesen war. Dann waren Laura und ihr Mann überein gekommen, dass offenes Feuer am Baum zu gefährlich war und waren wieder zu den elektrischen Kerzen zurückgekehrt.

Gemeinsam gelang es Paul und Patricia die Lichter so über den Baum zu verteilen, dass ein gleichmäßiges Bild entstand. Es war eine schweißtreibende Arbeit und beide waren froh, als sie damit fertig waren.

Patricia kletterte von ihrem Stuhl herunter und betrachtete das Werk aus ein paar Metern Entfernung kritisch, bevor sie schließlich wieder hinaufstieg und begann, die Glaskugeln, die Paul ihr reichte, an die Zweige zu hängen.

Während sie so zusammenarbeiteten, fing Patricia zuerst leise an, Weihnachtslieder zu summen und stimmte schließlich die erste Strophe von „Adeste Fideles“ an. Nach den ersten Takten fiel Paul mit ein und seine etwas brüchige Stimme vermischte sich mit Patricias hellem Sopran.

„Oh come all ye faithful,
Joyful and triumphant,
And come ye, oh come ye
To Bethlehem.”

Die Zeile „Come and behold him,” setzte er aus, weil er die hohen Töne in dieser Passage schon lange nicht mehr singen konnte und stimmte erst wieder mit ein bei:

„Born the king of angels,
Oh come let us adore him,
Oh come let us adore him,
Oh come let us adore him,
The Christ, the Lord.”

Lächelnd summte Paul weiter vor sich hin. Er hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesungen.

Inzwischen waren auch die Glaskugeln auf die Äste verteilt und der Baum glitzerte bereits weihnachtlich. Schließlich reichte Paul seiner Schwester den restlichen Baumschmuck – ein paar kleine Päckchen in goldenes Papier eingewickelt und mit roten Schleifen darum und die Figuren, die sie als Kinder gebastelt hatten. Sogar Seans grünes Rentier und der blaue Weihnachtsmann fanden einen Platz am Baum – in Augenhöhe der Kinder – das konnte Patricia sich nicht verkneifen.

Schließlich trat sie neben Paul und betrachtete ihr gemeinsames Werk.

„Eigentlich ist er perfekt so wie er ist“, stellte sie dabei fest. „Wenn wir jetzt noch Lametta dazwischen hängen, wird es zu überladen.“

Kurzerhand packte Paul das Lametta zurück in den Karton und sagte: „Dann lassen wir ihn einfach, wie er ist.“

„Kinder, ist der schön geworden“, erklang plötzlich hinter ihnen die Stimme ihrer Mutter. Laura Davis trat dazu und legte je einen Arm um die Beiden, während sie lächelnd den Baum betrachtete.

„Wisst ihr, das ist das Schönste daran, wenn der 24. auf ein Wochenende fällt“, stellte sie schließlich fest. „Ihr könnt einen Tag früher herkommen und alle bei den Vorbereitungen mitmachen. Dann ist es fast wie früher.“

Paul neigte sich zu seiner Mutter und küsste sie spontan auf die Wange. Dann war die sentimentale Anwandlung seiner Mutter vorüber.

„Kommt, wir haben noch viel zu tun! Ihr könntet schon mal die Geschenke herunter bringen und unter den Baum legen. Ich werde inzwischen anfangen zu kochen.“

Sie verschlossen das Wohnzimmer, bevor Diane und John mit den Kindern zurück kamen und gingen dann nach draußen, um ihrem Vater und Sean im Vorgarten zu helfen. Doch die beiden waren bereits fertig, als Patricia und Paul dazu kamen.

Die zwei Sträucher im Vorgarten waren bereits mit Lichterketten geschmückt und Sean stieg gerade von der Leiter, von der aus er die Lichterkette am Vordach über der Haustüre befestigt hatte.

„Ihr kommt gerade rechtzeitig, um unsere Arbeit zu bewundern. Was sagt ihr?“, fragte Richard Davis und trat zu Patricia und Davis. Die Beiden bewunderten den Weihnachtsschmuck gebührend, bevor sie ihren Vater und ihren jüngeren Bruder mit nach drinnen nahmen, wo die beiden sich mit einer großen Tasse Tee wieder aufwärmten.

Als wenig später Diane und John mit den Kindern aus dem Einkaufszentrum zurück kamen, hatten sowohl Matt als auch Gracie je ein Polaroidfoto von sich und dem Weihnachtsmann in der Hand.

Gracie zeigte ihres freudestrahlend herum – mit ihren fünf Jahren glaubte sie noch an die Geschichte, die ihre Eltern ihr erzählt hatten: Dass der als Weihnachtsmann verkleidete Mann im Kaufhaus für den Weihnachtsmann arbeitete und für ihn die Wünsche der Kinder einsammelte. John und Diane hatten sich diese Geschichte einfallen lassen müssen, als Gracie anfing, sich zu wundern, wie der Weihnachtsmann in mehreren Einkaufszentren und Spielwarenläden gleichzeitig sein konnte.

Matt dagegen zeigte sein Foto nur ungern her. Mit inzwischen 10 Jahren glaubte er schon nicht mehr an den Weihnachtsmann und fand sich – wie alle Jungs in dem Alter – schon viel zu erwachsen für solchen Kinderkram.

Seinen Eltern nahm er es besonders übel, dass sie ihn gezwungen hatten, gemeinsam mit Gracie für den Weihnachtsmann anzustehen und so zu tun, als glaube er immer noch daran, damit ihre Illusionen nicht zerstört wurden. In der Zeit, in der er in der Schlange für diesen komischen falschen Weihnachtsmann gestanden hatte, hätte er viel lieber im angrenzenden Spielwarenladen die neuen Modellautos angeschaut.

Nachdem die Kinder noch ein paar selbstgebackene Kekse bekommen hatten, wurden sie zum Spielen nach oben geschickt. Paul ließ sich durch das Gequengel der Kinder erweichen, mit ihnen zu gehen und ein wenig mit ihnen zu spielen.

Währenddessen bereiteten Laura und Diane das Abendessen vor, Sean und John gingen nach draußen, um noch ein wenig Feuerholz für den Abend zu spalten und den Weihnachtsklotz vorzubereiten, der in der Christnacht angezündet wurde und Patricia zog sich zurück, um mit Michael zu telefonieren, der bei seinen eigenen Eltern in Seattle war.

Im Kinderzimmer im oberen Stockwerk hatte Paul seine liebe Mühe damit, ein Spiel zu finden, mit dem beide Kinder einverstanden waren. Matt hätte am liebsten Monopoly oder Stratego gespielt, doch beide Spiele waren für seine jüngere Schwester noch viel zu schwierig und Stratego war zudem nur für 2 Spieler. Gracie dagegen wollte unbedingt mit ihrer „Little People“ Farm spielen, was Matts Meinung nach nur was für Babys war.

Nach einigen Diskussionen und ein paar Tränen von Gracie einigten sie sich schließlich auf „Mausefalle“, ein Brettspiel, bei dem es darum ging, die eigene Maus sicher durch den Parcours zu bringen und nach Möglichkeit die gegnerische Maus in eine Falle zu locken.

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Als Diane die drei schließlich zum Essen holte, hatte Matt dreimal und Gracie zweimal gewonnen und Paul gar nicht. Matt und Gracie fanden das ausgesprochen komisch und hänselten Paul deswegen noch, als sie bereits im Esszimmer waren.

Natürlich verschwieg Paul die Tatsache, dass er Gracie beide Male hatte gewinnen lassen und zum Glück schien es auch Matt nicht weiter aufgefallen zu sein.

Das Essen stand bereits auf dem Tisch, als Paul, Diane und die Kinder das Esszimmer betraten und alle anderen saßen bereits auf ihren Plätzen. Offenbar wartete man nur noch auf sie.

Paul schlüpfte auf seinen Platz und fing ein Lächeln von seiner Mutter auf, bevor diese nach einer der Schüsseln griff und begann, die Kartoffeln auf die Teller zu schöpfen.

Sean angelte sich gleich ein Stück Fleisch und packte noch eine ordentliche Portion Gemüse auf seinen Teller und fing gierig an zu essen.

„Schmeckt klasse, Mom", sagte er mit vollem Mund. Laura Davis, die sich gerade auf ihrem Platz niederließ, seufzte.

Es war immer das Gleiche, Sean benahm sich, als hätte er seit Wochen nichts zu essen bekommen. Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt schmeckte, was er da aß. Er schien die Fleischstücke förmlich im Ganzen hinunter zu schlucken.

Paul sah zu Patricia, diese zuckte nur mit den Schultern und begann langsam zu essen. Einen Moment betrachtete Paul seine Familie und lächelte. Wenn er allein in seiner Washingtoner Wohnung saß, machte er sich nicht die Mühe, den Tisch zu decken oder das Essen erst in verschiedene Schüsseln zu verteilen. Er kochte selten für sich allein, doch wenn er es tat, dann wanderte alles unzeremoniell auf einem Teller.

In Augenblicken wie diesen wünschte er sich, es wäre wieder so wie früher. Abermals schwor er sich, öfters den Heimweg anzutreten und nur für ein paar Tage aus dem Alltagstrott zu entfliehen. Sich einfach mal zurücklehnen und verwöhnen lassen. Dazu brauchte es nicht viel – nur ein paar friedliche Minuten, in denen er nicht allein war.

„Was ist? Willst du etwa dein Fleisch nicht?“, riss ihn Sean aus seinen Gedanken und angelte mit seiner Gabel an Patricia vorbei nach Pauls Stück Hackbraten.

Mit einer schnellen Bewegung pinnte Paul Seans Gabel mit seiner auf seinem Teller fest. „Wage es nicht einmal daran zu denken, kleiner Bruder“, drohte Paul so ernsthaft er konnte.

Abwehrend hoch Sean seine Hände. „Ich werd mich doch nicht mit einem trainierten Soldaten anlegen.“

„Gute Entscheidung...“ Ein fieses Grinsen breitete sich auf Pauls Gesicht aus. Er liebte diese Momente.

„Paul, du solltest dich öfters hier sehen lassen, dann erinnert sich deine Bruder wenigstens ab und zu an die Manieren, die wir ihm mühsam beigebracht haben“, sagte Richard Davis, was den Rest der Familie zu Lachen brachte.

„Ich werd mein Bestes tun, Dad“, lachte Paul. Mehr zu sich sagte er. „Oh ja, das werde ich.“

Der Rest des Essens verlief wie den Tag zuvor in einträglicher Stille. Draußen fiel leis der Schnee und drinnen sorgte das Feuer im Kamin für behagliche Wärme.

Ein wehmütiges Lächeln umspielte Laura Davis' Lippen.

„Irgendwie geht die Zeit wieder einmal viel zu schnell vorbei“, sagte sie leise. Es ist so schade, dass du nicht noch ein paar Tage länger bleiben kannst, Patricia.“

„Mom, du weißt doch, Michael will mich noch seinen Eltern vorstellen. Außerdem komme ich zum Klassentreffen ja schon wieder her.“

„Wann sagtest du noch mal, ist das Klassentreffen“, hakte Richard Davis nach. Paul und Patricia wechselten schmunzelnd einen Blick. Das war eine typische Frage für ihren Vater. Er war noch nie gut darin gewesen, sich Daten zu merken. Wenn seine Frau nicht den Überblick über sämtliche Jahres- und Geburtstage und Verabredungen behalten würde, hätte er vermutlich schon so einige Feiern einfach verpasst.

„Am zweiten Januar-Wochenende“, erwiderte Patricia und bemühte sich um einen ernsten Gesichtsausdruck, was ihr nur bedingt gelang.

„Ich weiß gar nicht, was daran so witzig sein soll“, beschwerte sich Richard Davis nun und Patricia beugte sich betont interessiert über ihr Essen, während sie versuchte, nicht in albernes Kichern auszubrechen.

„Oh, apropos Klassentreffen! Da fällt mir was ein!“, ließ sich jetzt Diane vernehmen. „Wisst ihr, wen ich kürzlich zu Hause in Detroit getroffen habe? Andrew Gallagher.“

Paul hatte gerade seine Gabel zum Mund führen wollen und hielt jetzt mitten in der Bewegung inne.

„Ist nicht wahr! Wirklich?“, fragte er dann. Diane nickte. Andrew war einer seiner besten Freunde aus Schulzeiten und zu Pauls Bedauern hatten sie sich völlig aus den Augen verloren seit dem College. Das Letzte, was Paul wusste, war, dass Andrew ein Wirtschaftsstudium an der Westküste begonnen und ein paar Jahre später dort auch geheiratet hatte.

„Was macht er inzwischen? Lebt er etwa wieder hier?“, fragte Paul. Seine Schwester nickte.

„Er ist jetzt irgendein hohes Tier draußen in den Motorwerken. Er sagte, er lebt jetzt in Grosse Pointe und du sollst dich doch mal bei ihm melden. Er hat mir seine Karte mitgegeben. Ich geb’ sie dir später.“

Paul nickte und nahm sich fest vor, sich diese Chance nicht noch einmal durch die Finger gleiten zu lassen. Noch einmal würden sie sich nicht so einfach aus den Augen verlieren.

Für den Rest der Mahlzeit schwieg Paul und er achtete auch nicht weiter auf die Gespräche der anderen. Er war in seine eigenen Gedanken versunken, in Erinnerungen an früher.

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Nach dem Essen halfen alle mit den Tisch abzuräumen, so dass sie sich dann im Wohnzimmer versammeln konnten. Der festlich geschmückte Weihnachtsbaum erntete bewundernde Kommentare und auch die Idee, den alten, selbst gebastelten Baumschmuck zu verwenden, fand allgemein Anklang.

Matt und Gracie entdeckten wie beabsichtigt den blauen Weihnachtsmann und das grüne Rentier von Sean und machten sich natürlich ausgiebig darüber lustig.

„Onkel Sean, dachte früher, dass die Rentiere von Santa Claus GRÜN sind…“, kicherte Gracie und Sean zog ein beleidigtes Gesicht.

„Ja, ja, lacht ruhig über euren armen Onkel Sean“, beschwerte er sich gespielt beleidigt, was die Kinder nur noch mehr zum Lachen brachte.

John schleppte den Weihnachtsklotz herein, packte ihn in den Kamin und fachte dann die noch darin enthaltene Glut neu an, bis die Flammen an dem großen Holzklotz züngelten. Patricia brachte aus der Küche das frische Früchtebrot, das sie am Morgen gebacken hatte, und obwohl das Abendessen bereits sehr üppig gewesen war, griffen alle noch mal zu.

„Patricia, dein Früchtebrot wird von Mal zu Mal besser“, stellte Diane, nachdem sie probiert hatte, fest. Sie erkannte neidlos an, dass Patricia eindeutig besser backen konnte als sie selbst. Besonders das Früchtebrot, nach dem Rezept ihrer Großmutter, gelang Patricia um Längen besser.

„Aber so gut wie das von Nana ist es leider immer noch nicht“, seufzte Patricia. Laura Davis’ Mutter, von Paul und seinen Geschwistern immer liebevoll Nana genannt, war als junges Mädchen mit ihrer Familie aus Deutschland in die USA gekommen und hatte viele Rezepte und Traditionen von dort mitgebracht. Und beides hatte sie an ihre eigenen Kinder weiter gegeben.

Obwohl Lauras Vater gebürtiger Amerikaner war, hatten in ihrer Familie immer die deutschen Traditionen vorgeherrscht. Als Kinder hatten Laura und ihr Bruder ihre Geschenke immer schon am heiligen Abend bekommen. Erst nachdem Laura Richard geheiratet hatte, hatte sie sich den amerikanischen Traditionen angepasst.

„Erinnerst du dich noch daran, als du zum ersten Mal versucht hast, Nanas Früchtebrot zu backen?“, fragte Paul an Patricia gewandt. „Es ist völlig verbrannt und die ganze Küche war voller Qualm.“

Patricia wurde rot.

„Musst du mich immer wieder daran erinnern?“, fragte sie gequält. „Es war immerhin mein erster Backversuch. - Das ist nicht komisch!“ Ihre letzten Worte hatten Sean gegolten, der auf dem Sofa saß und lachte und den bösen Blick, den Patricia ihm zuwarf, vollkommen ignorierte.

„Doch das ist es“, kicherte Sean und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Aber noch besser fand ich den Teil, als du die Küche gelüftet hast und plötzlich die alte Mrs. Boden von nebenan vor der Türe stand und fragte, ob sie die Feuerwehr rufen solle.“ Die letzten Worte gingen beinahe in einem neuerlichen Lachanfall von Sean unter.

Paul unterdrückte ein Lachen, indem er sich auf die Lippen biss. Das Gesicht von Patricia, als die alte Nachbarin vor der Türe gestanden und die Feuerwehr hatte rufen wollen, war köstlich gewesen. Und Patricia trug jedes Mal wieder diesen peinlich berührten Gesichtsausdruck, den er so komisch fand, wenn jemand sie an dieses Kapitel erinnerte.

„Du kannst ganz ruhig sein. Oder hast du die Geschichte mit dem umgeworfenen Weihnachtsbaum vergessen?“, gab Patricia nun schadenfroh in Seans Richtung zurück. Seans Lachen erstarb, dafür konnte nun Paul nicht mehr an sich halten und lachte laut los.

„Das war ja wohl was ganz anderes“, empörte sich Sean.

„Stimmt. Das war es. Bei mir war nur das Brot verbrannt, Du hättest beinahe wirklich das Haus in Brand gesetzt, als du den Weihnachtsbaum mit den offenen Kerzen umgeworfen hast“, triumphierte Patricia auf und streckte Sean die Zunge heraus.

Damals hätte das Weihnachtsfest beinahe in einer wirklichen Katastrophe geendet, als Sean beim Herumalbern gegen den Weihnachtsbaum mit den brennenden Kerzen gestürzt war und beide zusammen umgefallen waren. Nur dem schnellen Eingreifen von Paul war es damals zu verdanken gewesen, dass außer einem Brandfleck im Teppichboden und ein paar versengten Haarbüscheln auf Seans Kopf nichts geschehen war.

„In den letzten fast 40 Jahren haben wir so einige Weihnachts-Dramen erlebt“, stellte Richard schmunzelnd fest. Inzwischen konnten sie über fast alle lachen, doch das war nicht immer so gewesen.

„Oh ja, besonders Sean hat immer wieder für eine Menge Wirbel gesorgt“, bemerkte Diane an ihren Mann gewandt.

„Na, da war er aber nicht der einzige“, konterte Laura. Diane zuckte sichtlich zusammen, als sie zu ahnen begann, was nun kommen würde und sie sah aus, als wünschte sie sich, den Mund nicht so voll genommen zu haben.

„Oh ja, ich erinnere nur an das Jahr von Bob Geldofs Aktion für Afrika“, intonierte ihr Mann und warf Diane einen vielsagenden Blick zu. „Jemand ganz Bestimmtes wollte uns überzeugen, an Weihnachten auf alle Geschenke und den Truthahn zu verzichten und stattdessen Maisbrei mit Maniok zu essen, im Gedenken an Afrika.“

„Hey! Das waren wirklich noble Vorsätze, die ich in diesem Jahr hatte“, beschwerte sich Diane selbst halb lachend.

„Oh sicher“, erwiderte Laura schmunzelnd. „Dagegen dass du dir Geld zu Weihnachten gewünscht und es dann gespendet hast, sagt auch keiner was. Nur den zweitägigen Hungerstreik mit Wasser und Reis, als ich trotzdem einen Truthahn gemacht habe, fand ich etwas extrem.“

Diane wurde rot bis unter die Haarwurzeln, als John sich zu ihr umdrehte und erstaunt bemerkte: „Das hast du mir nie erzählt!“

„Ich wette, du wusstest auch nicht, dass deine Frau früher wild entschlossen war, Greenpeace-Aktivistin zu werden. Ihr großer Traum war es, Walfänger mit einem Schlauchboot aufzuhalten“, sagte Paul an seinen Schwager gewandt.

„Von einem Schlauchboot war nie die Rede!“, widersprach Diane energisch.

„Von Greenpeace aber schon. Die ganzen Zimmerwände war zugepflastert mit Rettet die Wale-Plakaten“, erinnerte Laura sie.

„Was? Eine militante Umweltschützerin warst du auch?“, scherzte John.

„Diane war so etwas wie unser ökologisches und soziales Gewissen – lang bevor das alles politische Themen wurden“, diagnostizierte Paul und betrachtete seine ältere Schwester nachdenklich. Sie war ein sehr leidenschaftlicher Teenager gewesen und hatte immer zu Extremen geneigt.

„Gütiger Himmel! Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?“, rief Diane plötzlich aus und deutete auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Beim Schwelgen in alten Weihnachtserinnerungen war niemandem aufgefallen, dass es für die Kinder eigentlich längst Zeit war, ins Bett zu gehen.

„Matt, Gracie, sagt gute Nacht. Es ist Zeit schlafen zu gehen“, wandte sie sich dann an die beiden Kinder.

„Ich bin aber noch gar nicht müde“, protestierte Matt und verschränkte unwillig die Arme vor der Brust.

„Ich auch nicht!“, stimmte Gracie zu und gähnte dann einmal herzhaft.

„Ja, das sehe ich“, erwiderte John lachend und stemmte sich aus dem Sofa empor. „Na los, ihr beiden. Schlafenszeit.“

Murrend ließ sich Matt von seinem Vater aus dem Zimmer schieben. Gracie hingegen leistete mehr Widerstand. Sie wollte partout nicht ins Bett gehen, denn sie hatte sich in den Kopf gesetzt, sich hinter einem der Sessel im Wohnzimmer zu verstecken und auf den Weihnachtsmann zu warten.

Diane und Laura hatten ihre liebe Mühe, der Kleinen begreiflich zu machen, dass der Weihnachtsmann nicht kommen würde, wenn das Zimmer nicht ganz leer war und dass er ganz bestimmt merken würde, wenn sich jemand hinter einem der Sessel versteckt hätte.

Schließlich ließ sich Gracie doch noch überzeugen, dass es besser war, ins Bett zu gehen – natürlich nicht, ohne vorher zusammen mit ihrer Mutter ein paar selbstgebackene Kekse von Laura Davis und ein Glas Milch auf einem kleinen Tischchen neben dem Kamin für den Weihnachtsmann bereit zu stellen, damit dieser sich auf seiner langen Reise stärken konnte.

Gracie ermahnte noch mal alle, nicht zu lange im Wohnzimmer zu sitzen – damit sie den Weihnachtsmann nicht störten, bevor sie sich schließlich aus dem Zimmer schieben ließ.

Die Erwachsenen blieben, nachdem John und Diane die Kinder ins Bett gebracht hatten, noch im Wohnzimmer sitzen und schwelgten in Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste, bis schließlich die Glocken der nahen Kirche zur Christmette riefen und gleichzeitig die Mitternachtsstunde verkündeten.

Wie immer hatten Richard und Laura es ihren Kindern frei gestellt, die Christmette zu besuchen, doch in diesem Jahr hatten es alle vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Doch jetzt zog es selbst die Erwachsenen in ihre Betten.

Laura und Richard verabschiedeten sich als erste, gefolgt von John und Diane und schließlich ging auch Sean in sein Zimmer um zu schlafen. Paul und Patricia blieben zurück. Ihnen oblag es dieses Jahr, die Weihnachtsgeschenke unter den Baum zu legen und die Milch und Kekse für Santa Claus verschwinden zu lassen.

Zusammen gingen sie in den oberen Stock in Patricias Zimmer, wo die Geschenke vor den neugierigen Augen der Kinder versteckt waren. Genau wie in Pauls früherem Jugendzimmer hatte sich auch in Patricias Schlafraum nicht viel verändert seit sie ans College gegangen war.

Die weißen Holzmöbel waren noch die Gleichen, an den Wänden hingen noch ein paar Poster von den Stars, für die sie damals geschwärmt hatte, Bruce Springsteen, Michael J. Fox und dem Darsteller aus dieser Fernsehserie namens MacGyver. Über dem Bett hing der Betthimmel aus rosa Tüll, den sie damals selbst genäht und angebracht hatte und auf der kleinen Kommode mit dem Spiegelaufsatz stand noch ihr herzförmiges Schmuckkästchen von damals.

Patricia öffnete den Wandschrank und förderte daraus gut zwei Dutzend Geschenke in buntem Papier mit Schleifen und Bändern darum hervor.

„Grund Gütiger!“, entfuhr es Paul unwillkürlich. „Habt Ihr den Weihnachtsmann ausgeraubt?“

„Du klingst schon fast wie Sean“, erwiderte Patricia und drückte Paul kurzerhand ein riesiges Paket in die Arme. Dann stapelte sie vier weitere obenauf, so dass Paul gerade noch darüber hinaus sehen konnte.

„Hey, das ist nicht sehr nett, was du hier machst“, beschwerte sich Paul und versuchte die Pakete festzuhalten, indem er das Kinn auf das oberste Paket presste. Patricia streckte ihm die Zunge heraus.

„Selber schuld. Na los, ich komme mit dem Rest“, antwortete sie, während sie die restlichen, deutlich kleineren Geschenke in einen großen Wäschekorb packte. „Und versuch bitte nichts fallen zu lassen und nicht die Treppe runter zu stürzen, ok?“, zischte Patricia noch und erinnerte Paul damit an den Vorfall vor ein paar Jahren, als er zusammen mit Sean die Weihnachtsgeschenke nach unten hatte bringen wollen und dabei auf der Treppe ausgerutscht war.

Matt war damals durch das laute Poltern aufgewacht und dann laut heulend ins Schlafzimmer seiner Eltern gerannt, weil er geglaubt hatte, der Weihnachtsmann wäre in ihrem Kamin zu Tode gestürzt und es hatte fast eine Stunde gedauert, bis Diane ihn wieder beruhigt hatte. Zum Glück hatte Paul sich damals nur ein paar blaue Flecken geholt und auch die Geschenke hatten den Sturz – bis auf leichte Blessuren am Geschenkpapier - unbeschadet überlebt.

Paul schnitt Patricia eine Grimasse, bevor er voraus ging. Gemeinsam schleppten sie die Geschenke ins Wohnzimmer und verteilten sie unter dem Weihnachtsbaum, bis das ganze Arrangement schließlich aussah wie ein perfektes, kitschiges Foto aus einem Weihnachtskatalog.

„Oh mein Gott sieht das schön aus“, stellte Patricia schließlich fest.

„Stimmt“, bestätigte Paul und wurde dann sogleich wieder ganz pragmatisch. „Aber wir sollten uns um die Kekse und die Milch kümmern. Wäre doch furchtbar, wenn der Weihnachtsmann die übrig lassen würde.“

Patricia nahm die beiden Kekse vom Teller und gab einen davon Paul. „Hier, geteiltes Leid ist halbes Leid“, sagte sie zwinkernd. Seufzend ergab sich Paul in sein Schicksal. Es war ein Uhr nachts und das Letzte, wonach ihm gerade war, waren Schokoladenkekse und lauwarme Milch, auch wenn er die Kekse seiner Mutter normalerweise liebte.

Aber es ließ sich nicht vermeiden. Dieses Jahr waren er und Patricia dran.

„Wir hätten Sean den Vortritt lassen sollen - der hätte mit Sicherheit jetzt noch Appetit auf Schokoladenkekse“, sinnierte er.

„Stell dich nicht an, es ist ja bloß einer“, neckte seine Schwester ihn und ließ ein paar Krümel zurück auf den Teller fallen, nachdem sie ihren Keks halbiert und eine Hälfte in den Mund geschoben hatte.

„Corpus Delikti“, erklärte sie dabei mit vollem Mund.

„Wäre es nicht witzig, ein paar rußige Stiefelabdrücke vom Kamin bis zum Sessel zu machen? Quasi als Beweis, dass Santa wirklich da war“, scherzte er.

„Mom würde dich erschießen, wenn du ihren guten Teppichboden mit Ruß einsauen würdest“, kicherte Patricia.

Das Geräusch der sich öffnenden Schiebetüre zum angrenzenden Esszimmer ließ beide zusammenzucken. Beide fuhren nach dem Geräusch herum und beide fürchteten sie, dass sie nun von einem der Kinder ertappt worden waren.

Doch in der Türe stand zum Glück nur Sean – barfuss, in einem dunkelblauen Schlafanzug und die dunkelblonden Haare standen ihm wirr in alle Richtungen vom Kopf ab.

„Ha! Sieh einer an. Santa Claus und sein Elf!“, frotzelte er.

„Gott, Sean! Du hast uns zu Tode erschreckt. Wir dachten schon Gracie hätte uns erwischt!“, zischte Patricia und gab Sean mit Handzeichen zu verstehen, dass er die Türe wieder hinter sich schließen sollte, was er auch tat.

„Was tust du überhaupt noch hier unten? Du bist schon vor einer halben Stunde ins Bett gegangen“, wunderte sich Paul.

„Ich wollte mir noch was zu Essen holen. Ich habe Hunger und ich kann nicht schlafen, wenn ich Hunger habe“, erklärte Sean.

„Keks?“, fragte Paul und hielt seinem jüngeren Bruder den Schokoladenkeks, den er noch immer in der Hand hatte, hin. Sean nahm ihn kommentarlos und verschlang ihn so gierig, als hätte er seit Tagen nichts Essbares bekommen.

„Wie kann man nur so viel essen und dabei so dünn bleiben?“, fragte Patricia und es war nicht klar, ob sie mit Sean sprach oder mit sich selbst. Sean zuckte die Schultern.

„Ich habe eben einen guten Stoffwechsel“, antwortete er kauend. Lächelnd schüttelte Paul den Kopf.

„Na los, lasst uns ins Bett gehen. Es ist spät geworden“, sagte er schließlich und schob Sean in Richtung der Wohnzimmertüre. Patricia nickte zustimmend.

„Ja, die Kinder werden uns morgen sicher nicht lange schlafen lassen“, fügte sie an und öffnete leise die Wohnzimmertüre. Der Flur lag still und dunkel da. Offenbar war keines der Kinder ihnen auf die Schliche gekommen.

„Moment noch!“ Sean ging eilig zu dem kleinen Tisch neben dem Kamin, nahm das Glas Milch und leerte es in einem Zug. Als er das Glas wieder abstellte, hatte er einen kleinen Milchbart an der Oberlippe, den er mit dem Handrücken wegwischte. Patricia warf Paul einen belustigten Blick zu und Paul schüttelte nur schmunzelnd den Kopf.

„Gute Nacht“, verabschiedete sich Sean dann und schlich in Richtung der Küche weiter, während Patricia die Treppe ins obere Stockwerk hinauf stieg.

Paul blieb zurück, um die Wohnzimmertüre wieder zu schließen. Doch bevor er das Licht löschte und die Türe schloss, warf er noch mal einen langen Blick ins Wohnzimmer, auf den Weihnachtsbaum, dessen Lichter jetzt ausgeschaltet waren, und die vielen Geschenke, die darunter lagen und dabei dachte er, dass das wahre Geschenk für ihn jedes Jahr wieder die Mitglieder dieser Familie waren.
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